TikTok: Videos zu Demenz als Aufklärung und Klickbringer
Seite 2: Selbst Menschen mit Demenz sind sich nicht einig, was die Lösung wäre.
Viraler Schaden durch TikTok-Videos
Manchmal posten Familienmitglieder und sogar Pflegekräfte aus Frustration dann öffentlich auf ihren persönlichen Konten in den sozialen Medien. Sie dokumentieren einen schlimmen Moment in einem Video und teilen ihn auf Facebook – vielleicht in der Absicht, dass Familie oder Freunde sehen, womit sie zu kämpfen haben.
Pflegende posten solche Videos, wenn sie sich "wegen ihres Umgangs mit einer Person mit Demenz falsch beurteilt fühlen oder [das Gefühl haben], dass die Person mit Demenz gefährlich oder aggressiv ist", sagt Snow. Aber ein Video aus der Perspektive einer einzelnen Person erzählt nicht die ganze Geschichte. "Das sind die Dinge, die wir oft hören: Nun, sie wurde wirklich aggressiv! Und wenn man sich die Videos ansieht, denkt man: Hm, Du hast sie provoziert! Sie hat dir fünf Chancen gegeben, dich zurückzuhalten."
Einige der ersten viralen Videos, die Snow über Demenzkranke gesehen hat, bedienten diese Stereotypen und wurden erstellt, um zu behaupten, die gefilmte Person sei nicht mehr unabhängig lebensfähig. Solche schädlichen Videos haben sich im Laufe der Zeit vom "alten" Internet ohne Social Media zu Facebook, YouTube und jetzt zu TikTok verlagert. Ein TikTok-Konto, das zu einer kanadischen Organisation von Pflegekräften gehört, wurde im letzten Sommer geschlossen, nachdem es Videos veröffentlicht hatte, in denen sich Mitarbeiter über Demenzkranke lustig machten.
Swaffer ist auch beunruhigt über die Art und Weise, wie virale Videos zur Infantilisierung von Menschen mit Demenz beitragen, die sie auch im wirklichen Leben beobachtet hat. Sie erinnert sich an die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, in denen sie als Erkrankte "in einen Spielraum abgeschoben" und behandelt wurde, als hätte sie kaum kognitive Fähigkeiten. Swaffer hat nach ihrer Diagnose noch drei Uni-Abschlüsse gemacht und eine Promotion begonnen. Im Internet sieht sie dieses Klischee durch populäre Videos verstärkt, die Demenzkranke beim Spielen mit Kinderspielzeug und Puppen zeigen.
Stereotypen, die durch virale Inhalte aufrechterhalten werden, haben einen spürbar negativen Einfluss auf Menschen mit Demenz. Bei Christine Thelker, einer kanadischen Aktivistin und Autorin, wurde vor acht Jahren eine vaskuläre Demenz diagnostiziert. Fast sofort begannen Menschen, die ihr nahe standen, ihre Fähigkeit in Frage zu stellen, zu arbeiten, ein Auto zu fahren und allein zu leben. Thelker lebt immer noch allein. Ein freiwilliger Helfer kommt einmal pro Woche vorbei, um ihr bei Dingen unter die Arme zu greifen, die mit der Zeit immer schwieriger werden. Aber sie sagt: "Ich kann immer noch Auto fahren. Ich kann für mich selbst kochen. Ich habe nicht über Nacht alle meine Fähigkeiten verloren."
Swaffer ist im Internet angefeindet worden, weil sie versucht hat, problematische Darstellungen über Demenz zu hinterfragen. "Es hat eine lange Diskussion über Sprache gegeben, über respektvolle Sprache in unserem Sinne." Menschen ohne Demenz sagten regelmäßig, man sei ein Leidender. "Sie leiden unter Demenz." Sie sei schon zweimal aus Gruppen in sozialen Medien geflogen, weil sie es gewagt hätte zu sagen, sie wolle nicht als Opfer dargestellt werden.
Thelker hat ähnliche Erfahrungen gemacht. "Die Leute mögen es nicht, wenn wir den Status quo in Frage stellen", sagt sie. Sie hat das schon oft erlebt, wenn sie sich über Pflegepraktiken geäußert hat, die nicht unbedingt für Menschen im Frühstadium der Demenz geeignet sind. "Dieser Status quo basiert darauf, dass Menschen erst diagnostiziert werden, wenn sie sich bereits im Spätstadium befinden. Nicht, wenn sie sich im Frühstadium befinden und noch 20 Jahre lang gut funktionieren könnten", betont sie.
Snow ist der Meinung, dass die schlimmsten Inhalte, die sie im Internet sieht, zum Teil auf einen Mangel an Unterstützung für die Pflegenden zurückzuführen sind. "Ich glaube, das größte Defizit fängt weiter vorne an. Die medizinischen Dienstleister sehen Demenz nicht als eine Erkrankung an, die zwei Personen betrifft." Also den Erkrankten selbst und den Pflegenden.
Solche Familienmitglieder sind nicht zu Experten für Demenz ausgebildet worden. Nicht jeder hat die finanziellen Mittel, um selbst eine Therapie zu machen. Daher wenden sich einige Pflegende an Facebook-Gruppen, um die Lücke zu füllen, die das Gesundheitssystem hinterlassen hat. "Sie fühlen sich von allem überfordert, abgekämpft und frustriert", sagt Snow. Aber diese Gruppen können einige der schlimmsten Narrative über Demenz verstärken, da die Mitglieder über ihre eigenen Erfahrungen berichten und Fotos von ihren Angehörigen in deren schlimmsten Momenten teilen.
Darauf stößt Snow bei ihrer eigenen Arbeit regelmäßig. "Lassen Sie uns sehen, ob wir Ihre Gefühle wahrnehmen können, um Sie dann zu einer besseren Betreuung zu führen", sagt sie. "Denn wenn wir Sie nicht dazu bringen können, sich auf eine andere Art um die Person zu kümmern, werden das Leben des Erkrankten und Ihr Leben beschissen sein."
"Es ist ein verdammt harter Job"
Es gibt keine einheitlichen "Best Practices" für die TikTok-Videos und Online-Diskussion von und über Demenzerkrankungen. Selbst Menschen mit Demenz sind sich nicht einig, was die Lösung wäre. Ideen sind aber vorhanden. Swaffer ist mehreren Facebook-Gruppen für Pflegende von Menschen mit Demenz beigetreten. Sie selbst war in ihrem Leben dreimal Pflegende für andere. "Mein Leidensdruck als pflegende Angehörige war so viel größer als mein Leidensdruck, weil ich die Diagnose Demenz hatte", sagt sie. "Zu sehen, wie jemand seine Fähigkeiten verliert und dann stirbt, ist ein verdammt harter Job."
Sie stellte fest, dass viele Pflegende ihr empfundenes Leiden auf die Demenzkranken abwälzen und davon ausgehen, dass ihre Erfahrungen gleich sind. In Wirklichkeit gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie es ausgehen kann. Das aktuelle Narrativ erweckt den Eindruck, es gäbe nur eine Art, Demenz zu erleben: als eine Abfolge von Verlusten. "Einige von uns sind Optimisten, andere sind Pessimisten, und einige von uns liegen in der Mitte", sagt Swaffer. Ein Pessimist neigt vielleicht zu Tragik und Leidensdiskussionen, "Das ist in Ordnung, denn es ist seine persönliche Erfahrung", sagt sie. "Ich glaube nur nicht, dass das die einzige Erfahrung ist, die wir öffentlich darstellen sollten."
Revere hat mit der Zeit gelernt, ihre Mutter differenzierter darzustellen. Ihre Mutter ist sich zwar immer noch der Kamera bewusst, aber sie hat die Fähigkeit verloren, wirklich zuzustimmen, dass sie gefilmt wird. Manchmal lernt Revere schmerzhafte neue Lektionen, wie man es macht. Ihr meistgeteiltes Video, in dem sie demonstriert, wie sie ihrer Mutter die Mundspülung wegnehmen konnte, ohne einen Streit anzufangen, ist eines, das sie jetzt bereut.
"Ich weiß nicht, ob das der richtige Moment war", sagt sie. Ihre Mutter zeigt sich in dem Video nicht von ihrer besten Seite – und diese Seite behält Revere jetzt lieber für sich. Als das Video in ihrem Feed wieder auftaucht, hat sie gemischte Gefühle. Sie weiß, dass es anderen Pflegenden wie ihr geholfen hat. Aber sie sagt auch: "Ich mag dieses Gefühl nicht, wenn solche Inhalte wieder auftauchen."
Jetzt wartet Revere 24 Stunden, nachdem sie ein neues Video aufgenommen hat, bevor sie etwas auf TikTok veröffentlicht. Dann schaut sie es sich noch einmal genau an. Wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt immer noch gut damit fühlt, veröffentlicht sie es. Damit dieser Ansatz funktioniert, muss die Person, die das Video erstellt, die demenzkranke Person als menschliches Wesen betrachten, das Respekt verdient. Thelker ihrerseits macht sich keine großen Sorgen um die Kontrolle ihrer Online-Präsenz, wenn ihre Demenz fortschreitet, obwohl sie hofft, dass ihre Angehörigen geschmackvoll über sie posten. "Es ist von mir schon so viel da draußen zu finden. Googeln Sie mich einfach", sagt sie.
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(bsc)