Ukraine: Ein Jahr Atomkraft im Krieg

Seite 2: Probleme in Saporischschja

Inhaltsverzeichnis

In der Zwischenzeit, Anfang März, besetzten russische Truppen das Atomkraftwerk Saporischschja am Dnepr. Mit seinen sechs Reaktoren und einer Gesamtleistung von 6000 MW ist es das größte in Europa. Dabei kämpften angreifende russische Truppen mit Einheiten der ukrainischen Nationalgarde, die das AKW verteidigten. Ein Schulungsgebäude neben dem AKW-Gelände geriet in Brand, eine Artilleriegranate traf ein Nebengebäude von Block 1, weitere Granaten landeten im Bereich des Zwischenlagers für bestrahlte Brennelemente.

Das AKW Saporischschja stand in den Monaten darauf mehrfach unter Beschuss, Raketen schlugen ein, es kam zu Artillerietreffern. Sicherheitsrelevante Anlagen oder Gebäude wurden dabei nicht in ihren Funktionen beeinträchtigt, schreibt die GRS. Allerdings wurde die Anlage durch den Beschuss von Stromleitungen mehrfach für längere Zeit vom Landesnetz getrennt. Sicherheitsrelevante Komponenten mussten autark mit Strom versorgt werden. Entweder erledigten dies Notstromdiesel oder das AKW ging in den "Inselbetrieb". Dabei werden Reaktoren so weit heruntergefahren, dass sie die gesamte Anlage mit Strom versorgen.

Das ist seit dem 12. September 2022 nicht mehr möglich, denn da wurde mit Block 6 der noch letzte laufende Reaktor in den Zustand "heiß unterkritisch" überführt; in dem Zustand befinden sich dieser und Block 5 bis heute. Die Reaktoren 1 bis 4 sind derzeit im Zustand "kalt und entladen". "Heiß unterkritisch" bedeutet, dass in dem Reaktor keine nukleare Kettenreaktion stattfindet, es wird nur die Abwärme der laufenden Pumpen genutzt, um den Kraftwerksstandort und die nahegelegene Stadt Enerhodar mit Wärme zu versorgen. Das AKW benötigt rund 100 MW Strom, um die notwendigen Kühl- und Sicherheitsfunktionen sicherzustellen. Dieser Strom wird aus dem ukrainischen Netz bezogen.

Das für die Reaktoren nötige Kühlwasser bezieht das AKW Saporischschja aus dem Kachowkaer Stausees am Unterlauf des Dnepr. IAEA-Experten hatten Anfang Februar festgestellt, dass dessen Wasserstand gesunken sei. Die nukleare Sicherheit sei zwar aktuell nicht bedroht, der Vorfall zeige aber ein weiteres potenzielles Risiko für das AKW, sagte IAEA-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi.

Auch für das Personal im AKW Saporischschja ist die Lage prekär. Darauf wies Grossi mehrfach hin. Es stehe unter dem Druck der Besatzung und der Kriegssituation. Mitarbeiter und deren Familien wohnen im nahe gelegenen Enerhodar, das ebenfalls von den russischen Truppen besetzt ist. In der Nähe des AKW-Geländes waren Explosionen zu vernehmen, vermutlich hatten Tiere Landminen ausgelöst.

Am 5. Oktober 2022 nahm Russland das AKW Saporischschja offiziell in Besitz, es wurde dem russischen Staatskonzern Rosatom einverleibt. Nach ukrainischem Gesetz ist weiterhin der Betreiber Energoatom Eigentümer des Kraftwerks. Die ukrainische Aufsichtsbehörde SNRIU hat mittlerweile allen sechs Blöcken die Betriebsgenehmigung entzogen, da Verstöße gegen gundlegende Sicherheitsvorschriften nicht behoben werden könnten. Da viele ukrainische Mitarbeiter das AKW verlassen haben, werden sie durch Personal aus verschiedenen russischen AKW ersetzt.