Umdenken bei Alzheimer

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Er entdeckte, dass die Dicke der Myelinschicht um die Nervenfasern je nach Alter unterschiedlich ist: Bis zum Alter von etwa 45 Jahren werden offenbar nach und nach alle Nervenfasern damit umgeben. Die Myelinschicht isoliert aber nicht nur, sie beschleunigt auch die Signalweiterleitung entlang der Nervenfortsätze. Nach der Hälfte des vierten Lebensjahrzehnts kommt die Myelin-Neubildung dann offenbar zum Stillstand. Von da an, so beobachtete Bartzokis, werden die Isolierschichten dünner und brüchiger. Dieser Verfall war bei 34 Probanden, die an der Alzheimerschen Krankheit litten, sichtbar weiter vorangeschritten als bei den gesunden älteren Probanden.

Im selben Jahr veröffentlichte Bartzokis die Auswertung der Myelinbilder in den "Archives of Neurology". Der Artikel wurde fleißig zitiert, allerdings nur von Forschern, die das Altern verstehen wollen. Eine Reaktion aus der Alzheimer-Forschergemeinde? Fehlanzeige. Dabei waren längst weitere Fragezeichen hinter der Plaque-Theorie aufgetaucht. Viele Neurologen hielten zum Beispiel die Definition von Alois Alzheimer, der das Leiden als Erster beschrieb, nicht mehr für zutreffend. Alzheimer hatte 1906 schwarze und weiße Ablagerungen im augenscheinlich geschrumpften Gehirn einer Patientin gefunden, die bereits mit Mitte 50 an schweren Demenzsymptomen litt, und von der "Krankheit des Vergessens" gesprochen. Doch knapp hundert Jahre später wiesen immer mehr Experten darauf hin, dass den Patienten nicht die Erinnerung an einzelne Fakten, sondern der Sinn für Konzepte verloren gehe: Eingekaufte Eier landen im Badschränkchen, der Schmuck im Kühlschrank. Die Kranken kommen nicht mehr durch die eigene Tür, weil sie nicht wissen, dass Schlüssel in Schlösser gehören. Sie können den Namen ihrer Angehörigen nicht mehr sagen, weil ihnen nicht mehr klar ist, dass man Menschen am Namen unterscheidet.

Würden tatsächlich vereinzelte Nervenzellen durch die Amyloid-Plaques verloren gehen, wie es die Hypothese besagt, müssten die Betroffenen einzelne Begriffe vergessen, argumentierte nun auch Bartzokis. "Aber es schwinden eben zuerst die Zusammenhänge", sagt er. "Auf zellulärer Ebene werden solche Zusammenhänge durch Netzwerke von miteinander verknüpften Nervenzellgruppen gesichert." Das legte die Vermutung nahe, dass viele diese Verknüpfungen bei Alzheimer-Patienten aufgelöst werden. Wie aber hing das mit der dünner werdenden Myelinschicht zusammen? Bartzokis entschloss sich, die Alzheimer-Erkrankung zu seinem Hauptforschungsthema zu machen. Er las sich ein, sammelte Fakten über Proteine und Plaques, über Enzyme und Gene, setzte Puzzleteil um Puzzleteil zusammen – und wunderte sich:

"Überall war dieser begrenzte Blickwinkel. Die Kollegen befassten sich zwar mit den Amyloid-Vorläuferproteinen, aus denen später die Ablagerungen entstehen, aber keiner fragte, wie Alzheimer das Gehirn außerhalb der grauen Zellen verändert." Mit anderen Worten: Was passiert in der auch "weiße Substanz" genannten Myelinschicht?

2004 legte Bartzokis die Ergebnisse einer weiteren MRT-Studie im Fachjournal "Neurobiology of Aging" vor und bestätigte damit die Ergebnisse der ersten Veröffentlichung. Mit seinem nächsten Artikel, der im Fachmagazin "Journal of Alzheimer's Disease" erschien, wandte er sich quasi direkt an die Spezialisten: Er belegte, wie exakt sich der Myelinabbau mit tomografischen Methoden messen lässt, und lieferte erneut Indizien für einen Zusammenhang zwischen den Myelindefekten und dem Auftreten der Erkrankung. Abschließend schlug er das Myelin als neues Therapieziel vor und plädierte für die Entwicklung von Medikamenten, die den Verfall der Isolierschicht und damit den geistigen Abbau bei Alzheimer aufhalten.