Umdenken bei Alzheimer

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Bartzokis glaubte, ein klares Muster zu erkennen: "Der Verfall beginnt dort, wo wir erst ganz am Schluss, in der Mitte unseres Lebens myelinisieren, bei den komplizierteren Dingen, den Zusammenhängen des höheren Intellekts, den theoretischen Konzepten. Und er endet dort, wo wir schon im Mutterleib die ersten Isolierschichten ausgebildet haben, bei den Basisfunktionen, in den motorischen Regionen." Diese Erkenntnis passte viel besser zu den Symptomen der Alzheimer-Krankheit: Die Verhaltensänderungen schreiten nicht zufällig voran, wie es die Theorie von den Amyloid-Müllhalden vermuten lässt. Doch auch auf diese Veröffentlichung gab es kaum Reaktionen. Immer wenn Bartzokis seine These auf Kongressen vorstellte, fragten die anderen Wissenschaftler zwar nach, bemängelten aber, dass die molekularen Grundlagen der Myelin-Hypothese nicht in Tierversuchen untermauert waren.

So war also die Welt der Amyloid-Verfechter immer noch in bester Ordnung, ihre Projekte wurden weiter kräftig mit Forschungsgeldern gefördert – und sie schienen recht zu behalten: 2006 gewannen Forscher um den Geriatrie-Mediziner Clive Holmes aus dem englischen Southampton den Wettlauf um den ersten Alzheimer-Impfstoff. Sie heilten Mäuse, die durch eingepflanzte menschliche Alzheimer-Risiko-Gene erkrankt waren, mit einem Antikörper von ihren Verhaltensstörungen. Die Antikörper markierten die Amyloid-Plaques, sodass sie vom Immunsystem erfolgreich abgebaut wurden. Doch Bartzokis ließ sich nicht beirren und sammelte weiter Indizien für seine Myelin-These. Im gleichen Jahr veröffentlichte er einen Artikel darüber, dass die Dicke der Isolierschicht von einem effektiven Cholesterintransport im Gehirn abhängt.

Myelin enthält große Mengen an Cholesterin, ein Viertel der gesamten Menge im Körper befindet sich im Gehirn. Zum Instandhalten der Myelinschicht ist also ein kontinuierlicher Nachschub an Cholesterin notwendig. Bartzokis erklärte in seinem Artikel, wie eine mutierte Variante des Cholesterin-Transportmoleküls ApoE zum Auftreten der Krankheit führe. Diese Version sei weit weniger effektiv als die anderen Varianten, weil sie nicht so viel Cholesterin "an Bord" nehmen könne. Deshalb verlangsame sich die Myelin-In-standhaltung. Wer also die ineffektivere Genversion in sich trage, so Bartzokis, habe ein größeres Risiko, an Alzheimer zu erkranken.

Im Jahr 2008 begann die Forschergemeinde tatsächlich umzudenken – aber aus einem anderen Grund. Es war das Jahr der großen Enttäuschung für die Plaque-Forscher: Holmes' Impfversuche, diesmal mit menschlichen Alzheimer-Patienten, erwiesen sich als Schlag ins Wasser. Zwar waren sie auf den ersten Blick erfolgreich, weil die Menge der Plaques nach der Impfung tatsächlich deutlich gesunken war. Doch der Zustand der Behandelten hatte sich genauso schnell und stark verschlechtert, wie es ohne Behandlung zu erwarten gewesen wäre. Jetzt schwenkte die Forschergemeinde zumindest auf eine "modifizierte Amyloid-Hypothese" um. Die Plaques galten nach wie vor als Ursache des geistigen Verfalls, aber die Forscher erkoren das Vorläufer-Molekül des Amyloids in den Zellen als neues Therapie-Ziel.

Bartzokis hingegen durchforstete weiter Hunderte von Veröffentlichungen nach Hinweisen auf die Rolle der molekularen Reparaturmechanismen von Myelin – und fand sie in Artikeln über Multiple Sklerose. Bei dieser neurodegenerativen Erkrankung wird die Myelinschicht von Nerven durch Antikörper angegriffen und zerstört. Auch in Artikeln von klassischen Zellbiologen über das Transportsystem in den Nervenzellen wurde er fündig.