Vor 40 Jahren: Erstflug des Space Shuttle – die Traummaschine geht in Dienst

Seite 3: Liftoff!

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Im Vergleich zur behäbigen Saturn-V stiebt Columbia aufgrund ihres höheren Schub-Masseverhältnis von 3:2 (gegenüber 6:5 bei der Saturn) sofort vehement nach oben. Crippen spricht später von einem Start wie mit dem Katapult eines Flugzeugträgers. Sein Puls schnellt auf 130 hoch, während es der abgebrühte Young nur auf 85 bis 90 Schläge pro Minute bringt. Der ungleichmäßig abbrennende Feststoff verursacht heftige Vibrationen, die es Young und Crippen schwer machen, die Instrumente abzulesen, aber die Computer steuern das Shuttle ohnehin vollautomatisch. 8 Sekunden nach dem Start rollt das Vehikel 100° um seine Längsachse und neigt sich leicht mit der Spitze nach Osten in Richtung des geplanten Orbits. Der Orbiter hängt nun bäuchlings mit dem Rücken nach unten unter dem Tank und ermöglicht der Crew so den der Orientierung dienenden Blick zum Horizont.

Bei T+50 Sekunden drosseln die Computer der Columbia automatisch ihre Haupttriebwerke auf 65 Prozent, um die aerodynamische Belastung zu verringern, wo die Kombination aus dünner werdender Luft und zunehmender Geschwindigkeit nach 56 Sekunden bei Mach 1,06 den maximalen aerodynamischen Druck (max Q) erzeugt. Nach 70 Sekunden gibt Capcom Daniel Brandenstein die Anweisung „Go with throttle up“ und die Haupttriebwerke werden auf 104 Prozent des nominellen Schubs hochgefahren. Nach einer Minute 53 Sekunden erreicht der Shuttle-Stack in 36 km Höhe Mach 3 und der Capcom vermeldet „Negative seats“ – von nun an können die Astronauten ihre Schleudersitze nicht mehr einsetzen.

Bei vierfacher Schallgeschwindigkeit in 41,5 km Höhe und 2 Minuten und 1 Sekunde nach dem Start nimmt der Druck in den Brennkammern der Feststoffbooster langsam ab und löst automatisch deren Abtrennvorgang aus. Derjenige Booster, der zuerst den kritischen Druck unterschreitet, triggert das Öffnen von Klappen in der Spitze beider Booster, was deren Innendruck schlagartig abfallen lässt, sodass die Verbrennung in beiden synchron erlischt, damit der Orbiter nicht durch asymmetrische Krafteinwirkung zur Seite gekippt wird. Fünf Sekunden später werden die Booster simultan pyrotechnisch vom Tank getrennt und mit Hilfe von je 8 Trennraketen seitwärts vom Orbiter weggestoßen. Sie steigen aufgrund ihrer Geschwindigkeit noch auf 65 km Scheitelhöhe und fallen dann 240 km vom Startort entfernt von Fallschirmen gebremst ins Meer. Der Flug der Columbia wird nun ruhiger. Sie neigt sich mehr und mehr in die Waagerechte, weil sie eine Orbitalgeschwindigkeit von 7,8 km/s (Mach 25) parallel zur Erdoberfläche erreichen muss.

Abwurf der Feststoffraketen

(Bild: National Aeronautics and Space Administration)

Sollte ein Triebwerk ausfallen, der Druck abfallen, eine APU versagen oder sie ähnliches Unheil heimsuchen, hat das Shuttle vom Zeitpunkt des Abwurfs der Feststoffraketen an vier Abbruchoptionen: bis 4 Minuten 23 nach dem Start kann ein „Return to Launch Site“ (RTLS) versucht werden. Dazu müsste der Orbiter zum richtigen Zeitpunkt über den Tank gegen die Flugrichtung gekippt werden und mit allen verbliebenen Triebwerken die gewonnene Geschwindigkeit wieder abbauen, um dann nach Abwurf des leeren Tanks zurück nach Florida zu gleiten. Dieser Abbruchmodus, der von allen Crews im Simulator geübt werden musste, war zwar derjenige mit der schnellsten Rückkehrzeit, aber er war der Alptraum aller Shuttle-Piloten, denn es mussten ein Reihe Voraussetzungen erfüllt sein, um den Orbiter intakt zu wenden und die nötige Geschwindigkeit in Richtung US-Küste zu erreichen. John Young äußerte sich zum RTLS-Manöver, dass es fortgesetzter Wunder durchsetzt mit göttlichen Akten bedurft hätte, damit es erfolgreich gewesen wäre.

Abbruchoptionen für das Space Shuttle. Von links nach rechts: Return to Launch Site (RTLS); Transatlantic Abort Landing (TAL); Abort Once Around (AOA); Abort To Orbit (ATO).

(Bild: National Aeronautics and Space Administration.)

Als zweite Option wäre ab 2 Minuten 30 der suborbitale Weiterflug mit einer Landung auf einer vorbereiteten Landebahn auf der Marinebasis Rota bei Cadiz in Spanien möglich (Transatlantic Landing, TAL). Je nach Mission gab es verschiedene TAL-Notlandebahnen auf den Azoren, in Europa und Westafrika, zu denen zu Beginn auch der Flughafen Köln-Bonn gehörte. Ab ca. 5 Minuten nach dem Start hätte das Shuttle genug Geschwindigkeit, um als dritte Möglichkeit die Erde beinahe einmal komplett zu umrunden, über dem Pazifik wieder in die Atmosphäre einzutreten und fast normal in Kalifornien zu landen (Abort Once Around, AOA). Und als vierte Option verblieb die Möglichkeit eines Abbruchs in den Orbit (Abort to Orbit, ATO), falls nicht der gewünschte, aber ein niedrigerer Orbit mit den verbleibenden Triebwerken erreicht werden könnte (dieser Fall ist tatsächlich bei einem Flug der Challenger einmal eingetreten, die anderen Abbruchmodi wurden nie zum Glück nie benötigt – oder waren beim Challenger-Unglück leider nicht möglich).

Der AOA-Abbruch war beim Jungfernflug der Columbia als nominelle Flugbahn programmiert worden, die etwas steiler ansteigt als der direkte Start in den geplanten Orbit. Bei 4 Minuten 23 auf 137 km Höhe wird nun auf die eigentliche Flugbahn in den Orbit gewechselt und Columbia zieht die Nase 4° unter den Horizont, um mit erhöhter Geschwindigkeit eine Höhe von 118 km anzusteuern, was den Astronauten einen Logenblick auf die Erde beschert. „Mann, welch ein Anblick, welch ein Anblick!“ entfährt es dem Rookie Crippen, worauf der Capcom antwortet „Schön, dass er dir gefällt.“ Bei T+7 Minuten und 17-facher Schallgeschwindigkeit würde Columbia es nun schaffen, auch mit einem Triebwerk den Orbit zu erreichen und der Capcom gibt die entsprechende Notiz durch: „Single engine press to MECO“ (MECO = Main Engine Cut-off, Triebwerksabschaltung). Bei T+7 Minuten 30 beginnen die Triebwerke automatisch auf 65 Prozent zu drosseln, damit die Beschleunigung unter 3 g bleibt.

Bei 8 Minuten 42 ist schließlich Brennschluss, MECO, und die Astronauten werden von 3 g Anpressdruck abrupt in die Schwerelosigkeit befördert, denn die Columbia ist nun im freien Fall. 18 Sekunden später wird der externe Tank abgekoppelt, und nach oben und hinten weggestoßen – er wird in der Atmosphäre zerbrechen und in den Indischen Ozean stürzen. Die erreichte Höhe von 118 km ist auch für das Shuttle zu niedrig, um beim dortigen Luftwiderstand lange verweilen zu können, und so startet Young die Orbitalmanövriertriebwerke für 86 Sekunden, um das Shuttle auf 247 km Höhe zu befördern. Dort angekommen würde es auf einer elliptischen Bahn wieder auf 118 km Höhe zurückfallen, deshalb muss er nach 44 Minuten am höchsten Punkt den Orbit mit einem zweiten Brennmanöver von 75 Sekunden „zirkularisieren“. Auch dies gelingt. Young kommentiert später, dass das Feuern der Steuerdüsen zur Orientierung des Shuttles wie ein Kanonenschuss klinge und die gesamte Kabine in Schwingungen versetze. Kein Geräusch, das man möge, wenn man es zum ersten Mal höre.

Die Columbia befindet sich schließlich auf einer Bahnhöhe von 246×248 km, etwas höher als die ursprünglich im Flugbahn vorgesehene Kreisbahn in 240 km Höhe. Im Laufe des Tages wird die Bahn durch zwei weitere OMS-Manöver auf eine endgültige Höhe von 278×278 km angehoben. Die eigentliche Mission kann beginnen!

Die erste wichtige Aufgabe ist das Öffnen der Ladebucht-Luken, denn unter den Innenseiten der beiden Lukenhälften befindet sich das Kühlsystem des Orbiters, das zur Temperierung der Elektronik benötigt wird. Die Klappen müssen bis spätestens zum Ende der zweiten Erdumrundung geöffnet sein, sonst würde die Columbia heimkehren müssen. Beide Lukenklappen öffnen sich problemlos. Nun können die Astronauten durch zwei Fenster, die an der Rückseite des Flugdecks die Sicht auf den Innenraum der Ladebucht ermöglichen, das Heck des Orbiters sehen und stellen mit Schrecken fest, dass einige Hitzeschutzkacheln auf den Verkleidungen der OMS-Triebwerke beidseitig der Heckflosse fehlen. Insgesamt fehlen 16 Kacheln. Sofort wird im Kontrollzentrum in Houston eine Untersuchung gestartet, die bewerten soll, wie groß das Risiko ist und, wie weiter vorgegangen, werden soll.

Schrecksekunde nach dem Öffnen der Ladeluke beim Blick durch die Fenster zur Ladebucht: An der vorderen Verkleidung der OMS-Triebwerke fehlen mehrere Hitzeschutzkacheln.

(Bild: National Aeronautics and Space Administration)

Auf einer Pressekonferenz noch am selben Tag erklärt Flugdirektor Neil Hutchinson, dass die fehlenden Kacheln keine Gefahr darstellten, da die OMS-Verkleidungen beim Aufstieg einer größeren Hitze ausgesetzt gewesen seien als sie es bei der Rückkehr sein würden. Auf die Frage, ob auch an der kritischen Unterseite, die der stärksten Aufheizung ausgesetzt sein würde, Kacheln fehlen könnten, antwortet er, dass er das nicht mit Bestimmtheit sagen könne, man aber davon ausgehe, dass dies nicht der Fall sei. Auf die Frage eines Reporters, ob es irgendetwas gebe, was ihn veranlassen könnte, die Mission zu verkürzen, antwortet er „Nichts!“.

Man hat ohnehin keine sichere Option – so oder so muss die Columbia den Wiedereintritt durchführen, eine Verkürzung der Mission würde an der Situation nichts ändern, außer dass das Testprogramm von 144 Einzelpunkten nicht zu Ende gebracht werden würde. Zu den Aufgaben am ersten Tag gehört die Kalibrierung des COAS-Systems zur visuellen Winkelmessung, ein Test der Star Tracker, mit deren Hilfe das Shuttle seine Orientierung anhand der Sterne bestimmen kann, Tests des Trägheitsnavigationssystems und der automatischen und manuellen Funktion der Steuerdüsen, Messungen der Strahlenbelastung, das Umfüllen von Treibstoff zwischen verschiedenen Tanks, ein Funktionstest der Hydraulik, das Durchspülen der Brennstoffzellen sowie die Aufnahme von Fotos.

Bald wird die erste Live-Schaltung aus dem Shuttle übertragen. Young lobt die wundervolle Leistungsfähigkeit der Columbia und ergänzt, dass die Mission voll im Zeitplan sei. Alle Systeme arbeiteten nominal. Er bedankt sich bei all den Menschen, die das Shuttle gebaut und die Mission möglich gemacht haben. Crippen ergänzt euphorisch, was für ein Thrill der Flug für ihn als Astronauten-Neuling bisher sei. Das Shuttle verhalte sich wie ein Champion, genau wie versprochen. Sie hätten nun etwas, das wirklich von Bedeutung für das Land und die ganze Welt sei.

Bob Crippen bereitet an Bord eine Mahlzeit vor. Hinter ihm die Staufächer des Mitteldecks

(Bild: National Aeronautics and Space Administration)

Kurz danach verlässt der Orbiter den Bereich der Funkstation und die Verbindung bricht ab. Erst ab 1983 werden die Tracking and Data Relay Satelliten (TDRS) von Shuttles ausgesetzt, die seit der Fertigstellung des Systems von der geostationären Umlaufbahn aus die lückenlose Sprach- und Datenverbindung der Shuttles und heute der ISS und ihrer Zubringerschiffe sicherstellen.

Am zweiten Missionstag wird die Crew mit Country-Musik geweckt. Young testet noch einmal die Hydraulik des Leitwerks, das für die Landung am nächsten Tag unverzichtbar ist. Außerdem wird das Schließen und Verriegeln der Ladebucht-Luken geprobt, die danach gleich wieder geöffnet werden. Hätte das Verriegeln nicht funktioniert, so hätte Crippen einen Außenbordeinsatz in der Ladebucht durchführen müssen, um die Halteklammern manuell zu verriegeln. Er ist entsprechend trainiert worden und ein Raumanzug ist mit an Bord. Die Crew nimmt im Laufe des Tages über 500 Bilder von der Erde auf. Nach dem Mittagessen führt die Crew ein Telefonat mit Vizepräsiden George H. W. Bush.

John Young auf dem Sitzplatz des Kommandanten beim Durchgehen der Checklisten

(Bild: National Aeronautics and Space Administration)

Am Morgen des dritten Missionstags bereiten sich Young und Crippen auf die Landung vor. Sie verstauen alle losen Gegenstände, checken das Flugsteuerungssystem durch, konfigurieren die Computer für die Landung und ziehen schließlich ihre Notausstiegs-Druckanzüge an, die sie zur Verwendung der Schleudersitze in großer Höhe tragen müssen. Während der 36. Erdumkreisung feuert die Columbia für 160 Sekunden ihr OMS über dem Indischen Ozean entgegen ihrer Flugrichtung und bremst sich um 90 Meter pro Sekunde auf eine elliptische Bahn ein, deren erdnächster Punkt die Erdoberfläche streift. Das Manöver findet außerhalb des Funkkontakts mit der Erde statt, aber ein kurzes Kommunikationsfenster über der Funkstelle Guam bei den Philippinen ermöglicht der Bodenkontrolle zu verifizieren, dass die Columbia sich auf dem richtigen Kurs gen Erdboden befindet.

Die Bahn schneidet die Atmosphäre nun an der richtigen Stelle, um mit der verbleibenden Energie antriebslos auf einer 7 km langen ausgewalzten Piste im ausgetrockneten Salzsee Rogers Dry Lake in Kalifornien zu landen. Diese befindet sich in direkter Nachbarschaft des Dryden Flight Research Centers der NASA (heute: Neil Armstrong Flight Research Center), das sich an das Gelände der Edwards Air Force Base anschließt. Dort warten bereits ein Konvoi aus 24 Bergungsfahrzeugen und über hundert Mannschaftskräfte, um das Shuttle nach der Landung zu versorgen und um auf alle denkbaren Notlagen vorbereitet zu sein. Unter anderem ist ein Tiefbettlaster mit einem Kühlaggregat dabei, um nach der Landung kalte Luft in den äußerlich aufgeheizten Orbiter zu blasen. Wie beim Start sind auch zur Landung an die 500.000 Zuschauer angereist, der Stau auf der Zufahrtsstraße erreicht zeitweise 14 km Länge.