Warum Indiens Netto-Null-Ziel für 2070 erreichbar und angemessen ist

Das Ziel liegt später als das vieler Nationen, aber Experten halten es für eine sinnvolle Verpflichtung für eines der sich am schnellsten entwickelnden Länder.

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(Bild: Arihant Daga / Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Casey Crownhart
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Indien ist offiziell dem "Netto-Null-Emissionen"-Club beigetreten, und sein Ziel für 2070 stellt einen vernünftigen, wenn auch anspruchsvollen Zeitplan für das Land dar. Die Verpflichtung gab Premierminister Narendra Modi am 1. November auf der UN-Klimakonferenz COP26 bekannt.

Obwohl das Zieldatum noch Jahrzehnte entfernt ist und später liegt als das für 2050 terminierte Ziel vieler anderer Länder, halten Experten es für eine ehrgeizige und sinnvolle Verpflichtung für eines der sich am schnellsten entwickelnden Länder der Welt. Jetzt ist es an der Zeit, dass wohlhabendere Länder wie die USA, die die Umwelt schon viel länger stark verschmutzen, ihre Unterstützung für die Bemühungen Indiens und anderer Entwicklungsländer verstärken, damit die ihre Klimaziele erreichen können.

Indien ist derzeit das Land mit dem dritthöchsten Schadstoffausstoß der Welt. Allerdings leben dort auch 17 Prozent der Weltbevölkerung, so dass die Pro-Kopf-Emissionen weniger als die Hälfte des weltweiten Durchschnitts betragen – und damit weit unter denen anderer Spitzen-Emittenten liegen. Dutzende von Millionen Menschen im Land haben immer noch keinen Zugang zu Elektrizität.

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Berücksichtigt man die historischen Daten, so ist Indien für weniger als fünf Prozent der kumulierten Kohlendioxidemissionen verantwortlich. Dagegen sind die USA mit 20 Prozent daran beteiligt, mehr als jedes andere Land. "Wenn man gerechte Kohlenstoffbudgets zuweisen wollte, würde Indien als wahrer Held angesehen", sagt Rahul Tongia, Senior Fellow am Center for Social and Economic Progress in Neu-Delhi.

Unabhängig davon war Modis Ankündigung für einige Forscher eine angenehme Überraschung, sagt Ulka Kelkar, Wirtschaftswissenschaftlerin und Klimadirektorin des World Resources Institute India. Die Ziele seien "klare Verbesserungen" gegenüber früheren Zielen, und nur wenige hätten erwartet, dass Indien auf der diesjährigen Konferenz eine Netto-Null-Zusage machen würde.

Das Ziel war "diplomatisch notwendig", sagt Navroz Dubash, Professor am Center for Policy Research in Neu-Delhi. Aber er sieht es vor allem als ein "abzuhakendes Kästchen", da alle zehn größten Emittenten außer dem Iran und die meisten anderen großen Volkswirtschaften eigene Netto-Null-Zusagen gemacht haben.

Von größerer Tragweite könnten seiner Meinung nach die von Modi genannten Zwischenziele sein. In seiner Rede versprach der Premierminister, dass Indien bis 2030 über 500 Gigawatt Stromkapazität aus kohlenstofffreien Quellen einschließlich der Kernkraft verfügen und 50 Prozent seines Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen decken werde. Außerdem verpflichtete er sich, die Gesamtemissionen Indiens um eine Milliarde Tonnen und die Kohlenstoffintensität (bei der die erzeugten Emissionen mit der erzeugten Elektrizität verglichen werden) ebenfalls bis 2030 um 45 Prozent zu senken.

Die indische Regierung stellte später klar, dass sich das 50-Prozent-Ziel auf die Stromerzeugungskapazität bezieht. Das bedeutet, dass zum Beispiel die meiste Energie, die in schwer zu dekarbonisierenden Sektoren wie dem Verkehrswesen verwendet wird, nicht berücksichtigt wird. Es geht zudem um die Kapazität, nicht um die Erzeugung. Und es wird wahrscheinlich weniger Beschränkungen für die Kohle geben, als einige Forscher ursprünglich angenommen hatten, erklärt Dubash.

Die Abkehr von der Kohle wird aber letztendlich notwendig sein, um Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Das wird eine echte Herausforderung für die indische Wirtschaft werden, da derzeit etwa 70 Prozent der Energie aus dieser Quelle stammen. Als besonders schwierig könnte sich die Sanierung anderer Sektoren neben der Elektrizität erweisen – wie Industrie und Verkehr, die einen großen Teil der indischen Emissionen verursachen. "Wir haben nicht einmal in den Industrieländern wirksame Lösungen, daher ist es unklar, wie sich diese auf ein Land wie Indien übertragen lassen", sagt Geosysteme-Spezialist Arvind Ravikumar von der University of Texas in Austin.

Länder wie die USA könnten helfen, fügt er hinzu, indem sie Forschung finanzieren und mit Entwicklungsländern zusammenarbeiten, um neue Technologien zu entdecken und dafür zu bezahlen. In seiner Rede auf der COP26 forderte Modi die reichen Länder auf, den Entwicklungsländern eine Billion Dollar an Klimafinanzierung zur Verfügung zu stellen. Doch solche Finanzierungsversprechen wurden bisher nicht eingehalten – die Zusage der Industrieländer aus dem Jahr 2009 in Höhe von 100 Milliarden Dollar pro Jahr, die eigentlich 2020 anlaufen sollte, wurde nicht eingelöst.

Finanzierung und Technologie könnten darüber entscheiden, ob Indien in der Lage ist, die versprochenen Emissionsreduzierungen zu erreichen. In einem kürzlich erschienenen Bericht der Internationalen Energieagentur haben Forscher ein Szenario entworfen, bei dem das Land Mitte der 2060er Jahre die "Netto-Null" erreichen würde. Dafür wären ihrer Einschätzung nach bis 2040 etwa 1,4 Billionen Dollar an zusätzlichem Kapital für saubere Energieprojekte erforderlich.

"Die Welt hat sich auf das Netto-Null-Ziel als Instrument zur Bekämpfung des Klimawandels eingeschossen", sagt Tongia, aber ein Netto-Null-Datum sagt nicht alles über die Klimaschutzmaßnahmen eines Landes aus. Die Gesamtmenge der Emissionen im Laufe der Zeit sowie der Kontext, in dem sie produziert werden, spielen eine Rolle für ihre Wirkung. Auch wenn manche argumentieren, dass die Zeit drängt, sei eine Verpflichtung für 2070 für Indien immer noch "ein enormer Schritt, der versucht, Gerechtigkeitsfragen mit sinnvollen Maßnahmen in Einklang zu bringen", fügt er hinzu.

(jle)