Was Whistleblower dürfen – und was nicht
Whistleblower decken immer wieder Skandale auf, haben es vor deutschen Gerichten aber schwer. Ein Gesetz soll das ändern, doch der Entwurf ist noch löchrig.
- Harald Büring
Wenn Informanten von Missständen in Unternehmen oder Behörden berichten, erfüllen sie eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe – egal, ob sie sich im Hause selbst beschweren oder Informationen über die Medien in die Öffentlichkeit bringen. Naturgemäß sehen das diejenigen, die von "Whistleblowing" betroffen sind, oft ganz anders. Sie drangsalieren Mitarbeiter, drohen mit Strafen oder gleich mit Kündigung. Eine Ombudsstelle, die anonym derlei Informationen entgegennimmt und weiterbearbeitet, ist längst nicht überall verpflichtend.
Wie der Weltkonzern Amazon mit Whistleblowern umgeht, mussten einem Bericht des Magazins Politico zufolge zwei führende Mitarbeiter aus den USA und einer aus der Niederlassung in Luxemburg erleben: Sie hätten ihre Vorgesetzten sowie die Unternehmensführung wiederholt auf Missstände beim Datenschutz aufmerksam gemacht. Auf ihre Schilderungen hin hätten sie jedoch keine Antwort erhalten. Vielmehr wurden die Whistleblower laut Politico daraufhin "kaltgestellt" beziehungsweise aus dem Unternehmen gedrängt – ein Vorwurf, den Amazon bestreitet.
Dass auch deutsche Unternehmen bisweilen wenig zimperlich mit Whistleblowern umgehen, zeigt ein Fall, der sich im Frühjahr 2020 auf dem Werksgelände des Fleischriesen Tönnies abspielte: Eine Angestellte einer Catering-Firma hatte auf einem Handyvideo festgehalten, dass die Beschäftigten in der Kantine während der Coronapandemie dicht beieinandergesessen hatten. Dieses Video kursierte in den sozialen Netzwerken, daraufhin kündigte der Arbeitgeber ihr fristlos.
Dagegen klagte sie vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Bielefeld. Doch eine endgültige gerichtliche Klärung blieb aus. Vielmehr schlossen die Parteien nach Angabe eines Gerichtssprechers zunächst einmal im Gütetermin einen Vergleich auf Widerruf. Nachdem die Arbeitnehmerin diesen fristgemäß widerrufen hatte, erklärte sie in einem Kammertermin, dass sie zwar das Video gedreht, dieses aber mit dem Handy eines Dritten aufgenommen habe. Dieser habe das Video in den sozialen Netzwerken veröffentlicht. Daraufhin einigten sich die Parteien gütlich.
Weshalb sich die Arbeitnehmerin mit einem Vergleich zufriedengegeben hat, ist nicht bekannt. Vermutlich spielte dabei eine Rolle, dass sie nicht bei Tönnies angestellt war, sondern bei einem Caterer. Ihr hätte kaum geholfen, wenn sie den Kündigungsschutzprozess gegen ihren Arbeitgeber gewonnen hätte. Denn dieser hätte sie gegen den Willen von Tönnies kaum weiter in der Betriebskantine einsetzen können. Der Fall zeigt beispielhaft, wie steinig der Weg für Whistleblower oft ist, vor Gericht eine abschließende Entscheidung zu ihren Gunsten zu erstreiten.
Menschenrechte im Fokus
Oft zieht sich der Streit zwischen Mitarbeitern, die Missstände nicht mehr hinnehmen, und ihren untätigen Arbeitgebern jahrelang durch die Instanzen. Nur wenige haben die Energie, dem Widerstand zu trotzen, auf Konfrontationskurs zu bleiben und auf Rechten zu bestehen. Sie erstreiten dann aber wegweisende Urteile, die in künftigen Verfahren eine Rolle spielen. Besonders eindrucksvoll gelang dies in einem Fall, der sich 2005 ereignete.
Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) in einem Altenheim erhebliche Missstände in der Pflege festgestellt hatte, beschwerte sich eine Altenpflegerin bei ihrem Arbeitgeber darüber, dass sie aufgrund des ständigen Personalmangels überlastet sei und deshalb nicht mehr ausreichend Verantwortung für die ihr anvertrauten Patienten übernehmen könne. Der Arbeitgeber ignorierte die Warnsignale und blieb untätig. Daraufhin zeigte ihn die Pflegerin wegen der Missstände sowie wegen schweren Betrugs nach § 263 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs (StGB) an.
Der Betrug ergab sich nach ihrer Ansicht daraus, dass der Arbeitgeber zur angespannten Personalsituation keine adäquate monetäre Gegenleistung erbracht hatte. Darüber hinaus seien die Mitarbeiter angewiesen worden, Berichte über erbrachte Leistungen zu fälschen. Nachdem die Staatsanwaltschaft Berlin ihre Ermittlungen eingestellt hatte, kündigte der Arbeitgeber seiner whistleblowenden Mitarbeiterin fristlos.
Hiergegen erhob sie Kündigungsschutzklage. Das ArbG Berlin gab ihrer Klage statt (Urteil vom 3.8.2005, Az. 39 Ca 4775/05). Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin sah die Sache jedoch anders: Die Richter erklärten die fristlose Kündigung für rechtmäßig und hoben das Urteil der Vorinstanz auf. Dies begründeten sie damit, dass die Pflegerin ihren Arbeitgeber leichtfertig unter dem Gesichtspunkt des Abrechnungsbetrugs angezeigt hatte. Aus der Einstellung des Verfahrens wegen Betrugs schlossen sie, dass dieser Vorwurf nicht stimmen könne.
Nachdem das Bundesarbeitsgericht (BAG) ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen und das Bundesverfassungsgericht die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hatte (BVerfG, Beschluss vom 6.12.2007, Az. 1 BvR 1905/07), wendete sich die Pflegerin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dort hatte sie mit ihrer Individualbeschwerde Erfolg.
Die Richter sahen die fristlose Kündigung als rechtswidrig an, weil sie gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen habe. Sie sprachen der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 5000 Euro Kostenerstattung zu. Das Gericht rügte, dass die deutschen Gerichte lediglich auf den Aspekt des Abrechnungsbetrugs abgestellt hatten. Sie hätten nicht hinreichend berücksichtigt, dass es der Altenpflegerin vor allem um den Schutz der ihr anvertrauten Patienten gegangen sei.
Berechtigter Betrugsvorwurf?
Dass Whistleblower trotz dieser Grundsatzentscheidung und selbst dann ein unwägbares Risiko eingehen, wenn ihr Arbeitgeber schwerwiegende Straftaten begangen hat, zeigt der Fall des sogenannten Bottroper Apothekenskandals: Dem kaufmännischen Leiter einer Apotheke war 2016 beim Abgleich von Bestellungen und Abrechnungen aufgefallen, dass die eingekaufte Menge von Wirkstoffen erheblich geringer war als die abgerechnete Menge. Gemeinsam mit einer Kollegin fand er heraus, dass der Inhaber der alteingesessenen Apotheke Krebsmedikamente gestreckt und sie zum Originalpreis verkauft hatte. Nachdem er seinen Arbeitgeber deshalb angezeigt hatte, kündigte dieser ihm fristlos.
Das ArbG Gelsenkirchen sah die Kündigung als rechtmäßig an. Die Begründung: Der Arbeitnehmer habe angeblich aus der Apotheke Medikamente für den privaten Gebrauch mit nach Hause genommen, ohne diese abzurechnen. Sie glaubten dem Mann nicht, dass er eine mündliche Absprache mit seinem Chef getroffen hatte und deshalb die Medikamente beziehen durfte.
Das LAG Hamm hatte an dieser Sichtweise jedoch – offensichtlich berechtigte – Zweifel: Der Apotheker schloss dort mit seinem kaufmännischen Leiter einen Vergleich, der neben der Fortzahlung von dessen Gehalt bis zum Zeitpunkt der ordentlichen Kündigung die Zahlung einer Abfindung und die Ausstellung eines Arbeitszeugnisses vorsah. Des Weiteren verpflichtete sich der Arbeitgeber, an den getätigten Vorwürfen zur Bezahlung der Medikamente nicht mehr festzuhalten.
Wenige Monate später verurteilte das Landgericht (LG) Essen den Betreiber der Apotheke zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz sowie wegen gewerblichen Betrugs. Ferner verhängten die Richter gegen ihn ein lebenslanges Berufsverbot. Diese Entscheidung ist inzwischen rechtskräftig, weil der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision des Angeklagten verworfen hat. Dieser legte dagegen Verfassungsbeschwerde ein. Sie ist derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängig (BVerfG, anhängiges Verfahren, Az. 2 BvR 1373/20).