Wie Mediziner die wahre Zahl der COVID-Opfer in Afrika herausfinden wollen

Seite 2: Schlechte Datenlage, nicht nur beim Coronavirus

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Einige wie Bruce Kirenga, Lungenarzt und beteiligt an der Bekämpfung von COVID-19 in Uganda, vermuten, dass bestimmte afrikanische Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer genetischen Veranlagung weniger anfällig sein könnten. Andere postulieren, dass ein lebenslanger Kontakt mit verschiedenen anderen Krankheitserregern wie Viren oder Parasiten, die in den Tropen Afrikas endemisch sind, zu einer gewissen Immunität gegenüber schweren Infektionen führen könnte.

Viele dieser Erklärungen erscheinen nach wie vor plausibel, und die meisten Epidemiologen sehen in der vergleichsweisen jungen Bevölkerung Afrikas tatsächlich einen entscheidenden Faktor. Dennoch basierte die allgemeine Vorstellung, dass Afrika "ausgelassen" wurde, auf einer unrealistischen Annahme: nämlich, dass die offiziellen Todeszahlen auf Länderebene weitgehend korrekt seien. In armen Regionen, so die Experten, werden selbst Krankheiten, die es seit Jahrhunderten gibt, oft erheblich unterschätzt. Nach Angaben der WHO wird weniger als ein Viertel der geschätzten Todesfälle durch Malaria in den offiziellen nationalen Statistiken erfasst – in einigen Fällen, weil Diagnosen fehlen, in anderen, weil sie gar nicht gemeldet werden.

Etwas Ähnliches ist wahrscheinlich auch bei COVID-19 passiert. Die Tests waren teuer und rar: Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie wurde nach Angaben von Africa Centres for Disease Control and Prevention (Afrikanische Zentren für Krankheitsbekämpfung und Schutzmaßnahmen) im Durchschnitt nur einer von 13 Afrikanern getestet. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, liegt diese Zahl bei weniger als einem von 40.

Um die Auswirkungen der Pandemie auch dann einschätzen können, wenn es Lücken in der Überwachung gab, wurde in vielen Ländern mit mittlerem und hohem Einkommen versucht, Daten zur Übersterblichkeit heranzuziehen – also der erhöhten Sterberate im Vergleich zu früheren empirischen Daten. In den meisten afrikanischen Ländern liegen jedoch keine aktuellen Todesfallstatistiken vor. Laut Stéphane Helleringer, einem Demographen an der New York University, der sich mit Sterbestatistiken befasst, verfügen nur wenige Länder des Kontinents über eine "annähernd ausreichende Verwaltung", um Sterbefälle zuverlässig und zeitnah zu erfassen.

In Sambia sind die Sterberegister oft lückenhaft, und es wird nur wenig auf COVID-19 getestet – zum einen mangelt es an Testmaterial, zum anderen wegen des Stigmas, das positiv Getesteten anhaftet. Gill und sein Kollege Lawrence Mwananyanda vermuten daher, dass die Hauptursache für das "Paradoxon" einfach ein Mangel an Daten war. Per Zufall hatten sie die seltene Möglichkeit, dieser Hypothese nachzugehen. Seit 2017 hatte ihr Team in der Leichenhalle der UTH verstorbene Säuglinge auf Atemwegserkrankungen getestet. 80 Prozent der Leichen von Lusaka werden in diese Halle gebracht, darunter auch die von Menschen, die zu Hause gestorben sind. Die Mediziner verfügten über PCR-Tests, die anderswo wegen ihres hohen Preises kaum eingesetzt wurden, und sie hatten erfahrenes Personal, das trauernde Angehörige beraten und um Zustimmung zur Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie bewegen konnte.

Finanziell wurde das Projekt – die Untersuchung von Leichen aller Altersgruppen auf COVID-19 – von der Bill and Melinda Gates Foundation gefördert. Nachdem das Team die für die Verarbeitung der Proben erforderlichen chemischen Stoffe gefunden hatte, machte es sich im Juni 2020 in der Leichenhalle an die Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Sambia nur einen offiziell als COVID-19 anerkannten Todesfall. Im ersten Stadium der Studie wurden zwischen Juni und September 2020 364 Leichen innerhalb von 48 Stunden nach dem Todeszeitpunkt untersucht. Bei fast jeder sechsten Leiche wurde SARS-CoV-2 nachgewiesen. Nur eine Handvoll der Verstorbenen hatte sich bereits zu Lebzeiten testen lassen.

Ihr erster Bericht, der im Februar 2021 im Journal des BMJ veröffentlicht wurde, lieferte überzeugende Argumente für ihre These der Untererfassung. Sie basierte jedoch immer noch auf einer relativ kleinen Zahl von Verstorbenen, weshalb das Team im Jahr 2021 für eine längere Untersuchung zurückkehrte. Diesmal fiel ihre Arbeit mit der zweiten und dritten Welle der Pandemie zusammen, die stärker als alle vorausgegangenen ausfielen.