Wie Mediziner die wahre Zahl der COVID-Opfer in Afrika herausfinden wollen

Eines der großen Rätsel der Pandemie ist, warum viele Teile Afrikas scheinbar vom Schlimmsten verschont geblieben sind. Es könnte nun gelöst werden.

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Ein Friedhof in Sambia.

(Bild: Jason Mulikita)

Lesezeit: 19 Min.
Von
  • Jonathan W. Rosen
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Die Leichenhalle des University Teaching Hospital (UTH) in Lusaka, einem großen Backsteinbau in der Nähe des Zentrums der sambischen Hauptstadt, ist nicht der angenehmste Ort zur Durchführung einer klinischen Studie. In dem riesigen Innenraum liegen neu eingetroffene Leichen unbeaufsichtigt auf rollenden Metalltischen oder in Decken eingewickelt auf dem Betonboden. Andere stapeln sich auf Gestellen im Freien, manche werden monatelang nicht abgeholt. Der Geruch ist überwältigend.

Doch hier, zwischen den Leichen in Sambias größtem Krankenhaus, sind die Forscher endlich kurz davor, eines der größten Rätsel der Pandemie zu lösen: Warum ist Afrika anscheinend von der großen Zahl der Todesopfer, die COVID-19 anderswo gefordert hat, verschont geblieben? Doch die Lösung dieses Rätsels sieht offenbar anders aus.

Das zeigt eine neue Studie, bei der aber das Peer Review noch aussteht. Sie stützt sich auf die Untersuchung von Nasenabstrichen bei Leichen und ist möglicherweise der bislang eindeutigste klinisch fundierte Beweis dafür, dass die Zahl der COVID-19-Toten in Lusaka und wahrscheinlich in weiten Teilen Afrikas stark unterschätzt worden ist.

Zwischen Januar und Juni 2021 testeten die Forscher 32 Prozent der Toten in der Leichenhalle positiv auf SARS-CoV-2. Diese Zahl stieg innerhalb einer Woche während der tödlichsten Welle in Sambia im Juni 2021 auf 82 Prozent. Die meisten Patientinnen und Patienten hatten sich nicht behandeln lassen und waren zu Hause gestorben. Lediglich weniger als 10 Prozent waren zu Lebzeiten positiv getestet worden – nur dann werden sie von den Gesundheitsbehörden offiziell als COVID-19-Opfer registriert.

Einige der infizierten Toten starben wahrscheinlich an anderen Ursachen. Doch Befragungen von Angehörigen und Krankenberichte der Patienten mit COVID-ähnlichen Symptomen, die vor ihrem Tod in Behandlung waren, lassen darauf schließen, dass etwa 70 Prozent der positiv getesteten Erwachsenen "wahrscheinlich" oder "möglicherweise" Opfer von COVID-19 waren.

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Lusaka, eine Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern am Knotenpunkt zwischen östlichem und südlichem Afrika, mag nicht unbedingt stellvertretend sein für einen ganzen Kontinent mit fast 1,4 Milliarden Einwohnern. Doch die Ergebnisse ihrer Studie stimmen mit einer zunehmenden Zahl an Schätzungen aus anderen Ländern der Region überein, betonen die Autoren: Ihrer Ansicht nach hat die Welt die tatsächliche Zahl der COVID-Toten in Afrika stark unterschätzt.

"Unsere Studie widerlegt den Mythos, dass Afrika von COVID-19 verschont geblieben ist", sagt Christopher Gill, ein Spezialist für Infektionskrankheiten an der Boston University School of Public Health und einer der Hauptautoren der Studie.

In den ersten Monaten der Pandemie befürchteten viele, dass die unterfinanzierten Gesundheitssysteme in Afrika überfordert sein würden: Ein UN-Bericht vom April 2020 sagte voraus, dass allein in dem Jahr zwischen 300.000 und 3,3 Millionen Afrikaner sterben würden.

Doch während sich SARS-CoV-2 und seine Varianten weltweit ausbreiteten, zeigte sich Afrika erstaunlich widerstandsfähig, obwohl dort jedes Jahr mehr als eine Million Menschen an HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose sterben. Anfangs, so Oliver Watson, Epidemiologe am Imperial College London, trugen die vergleichsweise geringe Zahl internationaler Flüge und viele strenge Lockdowns wahrscheinlich dazu bei, die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Doch selbst, nachdem die meisten Eindämmungsmaßnahmen gelockert wurden und Antikörperstudien gezeigt hatten, dass sich SARS-CoV-2 weit verbreitet hatte, blieb die Sterblichkeitsrate weit niedriger als erwartet. Bis zum 7. April 2022 waren in den 54 afrikanischen Ländern 251.516 offizielle COVID-Todesfälle registriert worden: 4,1 Prozent der weltweiten Gesamtzahl – und das auf einem Kontinent mit 18 Prozent der Weltbevölkerung.

Das scheinbare "Afrika-Paradoxon" löste schon früh eine Welle von Spekulationen aus. Zu den Erklärungsversuchen zählte zum Beispiel, dass es in Afrika weltweit die wenigsten Städte gibt und ein Klima, in dem man sich das ganze Jahr über im Freien treffen kann. Außerdem lebe dort eine sehr junge Bevölkerung, so liegt das Durchschnittsalter in Afrika unter 20 Jahren. Und diese jungen Menschen seien wahrscheinlich widerstandsfähiger gegenüber einer Krankheit, von der ältere Menschen besonders stark betroffen sind.