Wie Mediziner die wahre Zahl der COVID-Opfer in Afrika herausfinden wollen

Seite 4: Eintrittskarte in die Leichenhalle

Inhaltsverzeichnis

Inzwischen bestätigen immer mehr nicht-klinische Studien die These, dass ein Großteil der Todesfälle in Afrika übersehen worden ist. Eine im Mai letzten Jahres in The Lancet veröffentlichte Arbeit verfolgte fast 6.800 bestätigte oder vermutete COVID-19-Fälle, die eine Überweisung in eine Intensivstation in 10 afrikanischen Ländern erhalten hatten. Das Ergebnis: Weniger als die Hälfte der Patienten wurden überhaupt aufgenommen, und 48 Prozent davon starben innerhalb eines Monats. Laut der Studie ergab sich daraus, dass es in den Krankenhäusern im Vergleich zum weltweiten Durchschnitt deutlich mehr Todesfälle gab: 11 bis 23 auf 100 Patienten. Die Autoren führen das auf zu wenig Personal zurück und darauf, dass zu selten lebensrettende Maßnahmen wie Dialyse oder Sauerstoffversorgung ergriffen werden konnten.

Obwohl Sambia nicht in die Studie einbezogen wurde, berichteten Einheimische, dass auch dort akute Behandlungslücken bestehen. Viele Menschen, die während des Höhepunkts der Pandemie erkrankten, sähen die Einweisung in ein Krankenhaus als "Eintrittskarte in die Leichenhalle", sagt Sky Banda, 58, aus Lusaka. Die meisten entschieden sich stattdessen für eine Kräuterbehandlung zu Hause.

Onechi Lwenje, ein 36-jähriger Filmemacher, verbrachte während der zweiten Pandemiewelle in Sambia Anfang 2021 eine Woche auf der COVID-19-Station der UTH. Er berichtet, das Personal sei so überfordert gewesen, dass einige Todesfälle erst nach Stunden entdeckt wurden. "Die meisten Menschen, die auf diese Station kamen, haben sie nicht mehr verlassen", sagt er.

Die Daten zu Todesfällen in Afrika sind nach wie vor lückenhaft. Dennoch unterstützen andere Schätzungen zur Übersterblichkeit ebenfalls die Theorie, dass deutlich zu wenig Sterbefälle erfasst worden sind. Sie basieren allerdings auf provisorischen Methoden: Eine von The Economist entwickeltes Modell etwa nutzt maschinelles Lernen, um mehr als 100 Indikatoren mit verfügbaren Daten aus anderen Ländern zu korrelieren. Die Ergebnisse legen nahe, dass es in Afrika seit Beginn der Pandemie 1,1 bis 3 Millionen mehr Tote als in einer vergleichbaren Zeit davor gegeben hat. Ein Modell des Institute of Health Metrics and Evaluation der University of Washington beziffert die Zahl der Todesfälle im Dezember 2021 allein für die afrikanischen Länder südlich der Sahara auf 2,1 Millionen. Die Schätzung für Sambia liegt bei 81.000 – das 20-fache der offiziellen Zahl von 3.967.

Solche mit Algorithmen erstellte Berechnungen, die weitgehend auf Daten aus wohlhabenden Ländern basieren, seien jedoch mit Vorsicht zu genießen, warnen Experten. Jedoch zeichnen Schätzungen der Übersterblichkeit in Südafrika, die auf tatsächlich registrierten Todesfällen beruhen, ein weitgehend ähnliches Bild. Die offizielle COVID-19-Todesrate des Landes ist – auch aufgrund einer besseren Erfassung – fast achtmal so hoch wie die Sambias. Dennoch schätzt der staatliche Medical Research Council, dass die Rate selbst dort immer noch um den Faktor drei zu niedrig erfasst worden sei.

Mwananyanda von der Sambia-Studie, früher Klinikarzt und Forscher und jetzt Berater des sambischen Präsidenten Hakainde Hichilema, nimmt an, dass die COVID-19-Todesraten in seinem Land ähnlich hoch sind. Denn er sieht viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern. "Ich glaube, hier ist das gleiche wie in Südafrika passiert", sagt er. "Der einzige Unterschied ist, dass die Südafrikaner die Daten sammeln und auswerten können, und wir nicht."

Obwohl das Bostoner Team einerseits einige Datenlücken geschlossen hat, wirft seine Studie auch etliche Fragen auf. Eine bezieht sich auf das Thema der früheren Forschung von Gill und Mwananyanda, den Todesfällen bei Kindern. Während der Studie zeigten die meisten Erwachsenen, die an COVID-19 starben, die üblichen Atemwegssymptome der Krankheit. Doch bei der Mehrzahl der an COVID erkrankten Kleinkindern, so stellten die Forscher fest, war das nicht der Fall.

Laut Gill könnte dies daran liegen, dass ihr Tod nicht mit dem Virus zusammenhing. SARS-CoV-2 könnte sich aber auch stärker auswirken in Gegenden, in denen viele Kinder unterernährt und von anderen Krankheiten gezeichnet sind. In westlichen Ländern starben dagegen relativ wenig Kinder an COVID. In einer dritten Phase des Projekts, die im Februar begann, soll dieses Rätsel durch Biopsien von positiv getesteten Kinderleichen entschlüsselt werden. "Die Theorie ist plausibel", sagt Gill, "aber wir müssen sie beweisen".

Angesichts des derzeitigen Verlaufs der Pandemie ist Gill jedoch nicht sicher, ob das Team die Studie fortsetzen kann. Wie in vielen anderen Teilen der Welt führte die Omikron-Variante in Sambia im vergangenen Dezember zu einem starken Anstieg der Infektionen. Doch im März berichteten alle – vom Projektpersonal bis zu den Sarghändlern –, dass es in der jüngsten Welle weit weniger Todesfälle als in den vorangegangenen gegeben habe. Obwohl nur 12 Prozent der Sambier vollständig geimpft sind – die Gesundheitsbehörden verfügen zwar über die nötigen Impfstoffe, haben aber mit zögernden Bürgern und logistischen Engpässen zu kämpfen –, glauben viele Sambier, das Schlimmste von COVID-19 sei nun vorbei.

Was auch immer geschieht: Gill und Mwananyanda gehen davon aus, dass man die Auswirkungen von COVID-19 bald besser erkennen wird. Projektmitarbeiter haben bereits monatelang Bestattungsregister in ganz Lusaka durchforstet, um Daten für eine Analyse der Übersterblichkeit zu sammeln. Sie sollen ein klareres Bild davon vermitteln, wie stark die Untererfassung der durch COVID-19 bedingten Todesfälle in der Stadt war.

Die zu erwartenden Ergebnisse werden jedoch wenig an den Schlussfolgerungen ändern, die Ngoma und seine Kollegen bereits in den Monaten, die sie zwischen den Leichen an der UTH verbracht haben, gezogen haben: COVID-19 hat Afrika schwer getroffen. Diejenigen, die die Entwicklung verfolgt haben, konnten einfach nicht damit Schritt halten.

(jle)