Wie der Neustart eines stillgelegten Kernkraftwerks ablaufen soll

In Deutschland werden regelmäßig Forderungen laut, die Kernkraft wieder anzufahren. Im US-Bundesstaat Michigan gibt es dafür nun ein aktuelles Beispiel.

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Kernkraftwerk Palisades

(Bild: Energy.Gov)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Casey Crownhart
Inhaltsverzeichnis

Einem stillgelegten Kernkraftwerk in Michigan könnte dank eines Milliardenkredits des US-Energieministeriums bald ein zweites Leben eingehaucht werden – und nicht nur in den USA, sondern auch in Europa schaut man ganz genau hin. Sollte das Projekt, das insgesamt 1,4 Milliarden Euro kosten soll, gelingen, wäre es das erste AKW in den Vereinigten Staaten, das eine solche Wiedergeburt erlebt. Das Palisades-Kraftwerk wurde bereits am 20. Mai 2022 stillgelegt, nachdem es 50 Jahre lang Strom erzeugt hatte. Nun hat es mit Holtec International einen neuen Besitzer – und der ist der Ansicht, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen in den letzten Jahren so stark verbessert haben, dass sich ein Neustart lohnt. Geplant ist er bereits bis Ende 2025.

800 Megawatt Leistung soll die Reaktoranlage liefern. Doch die Wiederinbetriebnahme ist technisch aufwendig. Es reicht nicht, einfach einen Schalter umzulegen, auf dass Palisades wieder in Betrieb gehen kann. Es sind noch jede Menge technische, administrative und regulatorische Hürden zu überwinden, bis es soweit ist. Hier die zentralen Punkte.

Einer der Hauptgründe, warum Palisades überhaupt eine Chance hat, wieder in Betrieb zu gehen, ist, die Tatsache, dass der neue Eigentümer des Kraftwerks dies seit Jahren bereits vorgehabt hatte. "Technisch gesehen stehen alle Sterne gut, damit das Kraftwerk in Betrieb gehen kann", sagt Patrick White, Forschungsdirektor der Nuclear Innovation Alliance, einer gemeinnützigen Denkfabrik der Atomwirtschaft. Die Firma Holtec International rüstet eigentlich Kernreaktoren aus und entsorgt verbrauchten Brennstoff. Zudem legt sie auf Wunsch auch bestehende Anlagen still. Ursprünglich war das auch beim Palisades-Kraftwerk geplant, doch nach dem Kauf entschied man sich um. Die Anlagen wurde nicht zerlegt und dekontaminiert – wie etwa andere Projekte der Firma, darunter das Indian Point Energy Center in New York.

Aufgrund der sich ändernden wirtschaftlichen Bedingungen galt der Weiterbetrieb vieler, vor allem kleinerer Kernkraftwerke, eigentlich als nicht mehr zu rechtfertigen. Diejenigen mit einem einzigen, relativ kleinen Reaktor – wie Palisades – waren am stärksten gefährdet. Und wenn ein Kernkraftwerk einmal abgeschaltet ist, kann es schnell schwierig werden, es wieder in Betrieb zu nehmen. Wie bei einem Auto, das auf dem Hof steht, sagt Experte White, "muss man mit gewissen Beeinträchtigungen rechnen". Wartung und Prüfung kritischer Systeme werden reduziert oder fallen ganz aus. Backup-Dieselgeneratoren zum Beispiel müssten etwa regelmäßig überprüft und getestet werden, während ein Reaktor in Betrieb ist, aber nach der Abschaltung eines Kraftwerks würden sie wahrscheinlich nicht mehr auf die gleiche Weise gewartet, sagt er.

Holtec übernahm Palisades im Jahr 2022, nachdem der Reaktor abgeschaltet und der Kernbrennstoff bereits entfernt worden war. Schon damals gab es Forderungen, den Atomstrom des Kraftwerks im Netz zu halten, sagt Nick Culp, Senior Manager für Regierungsbeziehungen und Kommunikation bei Holtec. Das Unternehmen habe dann schnell umgeschaltet und beschlossen, das Kraftwerk offenzuhalten. Die notwendigen Wartungsarbeiten und die Sicherheitsbuchführung seien weitgehend fortgesetzt worden. "Die Anlage sieht so aus, als wäre sie gestern stillgelegt worden", sagt Culp.

Dennoch ist der Aufwand an Zeit und Ressourcen für die Wiederinbetriebnahme der Anlage nicht so groß. Es sei eher ein Neustart nach einem Tank- oder Wartungsstopp als eine Inbetriebnahme einer vollständig stillgelegten Anlage. Nach Abschluss der Wartungsarbeiten und dem Beladen mit frischem Kernbrennstoff kann der Palisades-Reaktor wieder anlaufen und genug Strom für etwa 800.000 Haushalte liefern.

Dennoch kostet das Projekt viel Geld. Der Bundesstaat Michigan hat in den letzten zwei Jahren bereits 276 Millionen Euro für die Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks bereitgestellt. Hinzu kommt nun der an Bedingungen geknüpfte Milliardenkredit des US-Energieministeriums in Washington. Holtec muss dafür bestimmte technische und rechtliche Bedingungen erfüllen, um das Geld zu erhalten, das schließlich mit Zinsen zurückgezahlt werden muss. (Details zu den genauen Bedingungen wurden nicht kommuniziert.)

Die staatlichen Mittel und der Kredit aus Washington werden dazu beitragen, die für den Neustart der Anlage erforderlichen Reparaturen und Aufrüstungsmaßnahmen zu finanzieren. Rund 260 Beschäftigte waren auch nach dem Shutdown weiter im Betrieb. Läuft Palisades wieder im Normalbetrieb, sollen etwa 700 Menschen hier arbeiten.

Eines der größten Fragezeichen im Zusammenhang mit einer möglichen Wiederinbetriebnahme bleibt allerdings die Genehmigung der Aufsichtsbehörden. Denn die US-Atomaufsicht Nuclear Regulatory Commission (NRC) hat bislang keinen genauen Weg für die Wiederzulassung eines eingestellten Kraftwerkbetriebs formuliert. "Wir betreten hier Neuland", kommentiert Jacopo Buongiorno, Professor für Kerntechnik am MIT, der das Projekt beobachtet.

Hinzu kommt: Palisades hat mit der Abschaltung und der Entnahme des Kernbrennstoffs aus dem Reaktor die Betriebserlaubnis praktisch aufgegeben. Holtec muss der NRC nun detaillierte Pläne vorlegen, aus denen hervorgeht, wie das Unternehmen die Anlage künftig in Betrieb nehmen und sicher betreiben will. Das Vorhaben ist dazu bereits angelaufen: Holtec hat den Antrag zur Wiederzulassung des Betriebs bei der NRC im Oktober 2023 formell eingeleitet und plant nun, die restlichen Unterlagen noch in diesem Jahr einzureichen.

Wenn die US-Aufsichtsbehörde und die örtliche Bürokratie dann grünes Licht gibt, soll Palisades schon bis Ende nächsten Jahres wieder in Betrieb genommen werden. Die Versorgung mit Brennelementen ist bereits gesichert. Hinzu kommt: Holtec hat längst langfristige Abnehmer für die volle Leistung des Kraftwerks gefunden, so Culp. Und es geht um einen langen Zeithorizont: Wenn alles läuft, könnte das Kraftwerk noch bis mindestens 2051 – ganze 80 Jahre nach seiner ursprünglichen Inbetriebnahme – Strom erzeugen.

Die Wiederinbetriebnahme von Palisades geschieht vor dem Kontext einer verstärkten Förderung fossilfreier Stromquellen in den USA, wovon insbesondere die Kernenergie profitieren konnte und Laufzeitverlängerungen älterer Kraftwerke in den USA erwirkt werden konnten. "Die Wiederinbetriebnahme eines Kernkraftwerks stellt eine grundlegende Neuerung bei unserer Unterstützung für sauberen Strom dar", sagt Julie Kozeracki, die für das Kreditprogramm des US-Energieministeriums als Senior Advisor arbeitet.

Angst vor der Kernkraft hätten die Menschen in den USA mehrheitlich nicht. Laut einer Umfrage des Pew Research Centers aus dem vergangenen Jahr befürworten 57 Prozent der Amerikaner sogar mehr Kernenergie im Land. 2016 waren es nur 43 Prozent. Außerdem stehen immer mehr Mittel zur Verfügung, darunter Steuergutschriften in Milliardenhöhe für Kernenergie und andere CO₂-arme Energieträger – im Rahmen des Inflation Reduction Act (IRA) des Demokraten Joe Biden. Die wachsende staatliche Unterstützung sowie die steigenden Strompreise anderer Quellen tragen dazu bei, dass bestehende Kernkraftwerke viel wertvoller seien als noch vor ein paar Jahren, sagt Kerntechniker Buongiorno vom MIT. "Es hat sich alles geändert."

Doch trotz der geplanten Wiederinbetriebnahme von Palisades steht eine Welle wieder angefahrener Kernkraftwerke in den USA wohl nicht an. "Dies ist ein wirklich seltener Fall, in dem jemand sehr vorausschauend gehandelt hat", bewertet White von der Nuclear Innovation Alliance. Für andere Kraftwerke, die kurz vor der Stilllegung stehen, wäre es aus Sicht der Atomwirtschaft billiger, einfacher und effizienter, den Betrieb einfach zu verlängern.

(jle)