CO₂-Bilanz der Stahlproduktion: Wie grüner Stahl ein Erfolg werden könnte

Die Industrieproduktion muss wegkommen von ihrem starken Kohlendioxidausstoß. In den USA versucht sich ein neues Start-up an ganz neuen Verfahren.

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(Bild: Boston Metal)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Casey Crownhart
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Wenn man die Treppe hinaufsteigt, um das neueste Projekt von Boston Metal zu besichtigen, wird einem schnell bewusst, wie groß die Aufgabe ist, Stahl endlich klimaneutral zu produzieren. Bei der eindrucksvollen neuen Anlage handelt es sich um einen Pilotreaktor, mit dem das Startup emissionsfreien Stahl herstellen will. Er hat etwa die Größe eines Schulbusses und ist in den Boden des Forschungsgebäudes eingelassen. So groß die Anlage auf den ersten Blick ist: In der Stahlindustrie, die jährlich fast 2 Milliarden Tonnen produziert, ist die potenzielle Leistung dieser Anlage ein Tropfen auf den heißen Stein.

Bei der industriellen Stahlerzeugung werden für jede Tonne Stahl etwa zwei Tonnen Kohlendioxidemissionen ausgestoßen – das sind fast 10 Prozent der weltweiten Emissionen. Es wird damit gerechnet, dass der globale Stahlmarkt bis 2050 um etwa 30 Prozent wachsen wird, dem Zeitpunkt, bis zu dem sich einige der größten Stahlhersteller verpflichtet haben, Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Wenn sich in der Branche nicht bald etwas ändert, könnte dieses Ziel unerreichbar werden.

Der neue Reaktor von Boston Metal, der kürzlich am Hauptsitz der Firma nördlich von Boston installiert wurde, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg des Unternehmens zur kommerziellen Arbeit. Seit seiner Gründung im Jahr 2013 hat das Startup ein Verfahren zur Herstellung von "grünem Stahl" entwickelt, wobei die Detailarbeit in kleineren Behältnissen erfolgen sollte. Der neue Reaktor stellt zusammen mit einer bevorstehenden Finanzierungsrunde den nächsten großen Schritt für das Unternehmen dar, das nun versucht, sein Angebot zu verbreitern.

Wenn es Boston Metal gelingt, sein sauberes Produktionsverfahren zu skalieren und genügend Strom aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen, um es zu betreiben, könnte das Unternehmen dazu beitragen, eine der größten Herausforderungen der Welt bei der Kontrollierung der Kohlenstoffemissionen zu lösen. Stahl wird schließlich für alles Mögliche verwendet, von Autos über Gebäude bis hin zu Windturbinen, aber die Dekarbonisierung der Industrie ist nicht gerade glamourös. "Die Menschen schenken den Industrieunternehmen nicht allzu viel Aufmerksamkeit", sagt Tadeu Carneiro, CEO von Boston Metal. "Es ist ein sehr konservativer Industriezweig", sagt er – und es ist schwierig, ihn grün umzubauen.

Fossile Energieträger sind für die heutige Stahlproduktion unerlässlich. Der Großteil der Stahlerzeugung beginnt in einem Hochofen, wo aus Kohle gewonnener Koks, das fast reiner Kohlenstoff ist, mit Eisenerz, einer Mischung aus Eisenoxiden und anderen Mineralien, reagiert. Durch die Reaktion wird Sauerstoff entzogen, sodass flüssiges Eisen zurückbleibt. Der Kohlenstoff und der Sauerstoff werden dann zusammen als Kohlendioxid freigesetzt.

Die Lösung von Boston Metal ist ein völlig neuer Ansatz, die so genannte Schmelzflusselektrolyse (Molten Oxide Electrolysis, MOE). Anstatt Kohlenstoff zur Entfernung von Sauerstoff aus der Verbindung zu verwenden, stützt sich das Verfahren auf Elektrizität, die durch eine Zelle fließt, die mit einer Mischung aus gelösten Eisenoxiden und anderen Oxiden und Grundstoffen gefüllt ist. Der Strom erhitzt die Zelle auf etwa 1600 °C und lässt alles zu einer heißen Oxid-Suppe schmelzen.

Neben der Hitze treibt der Strom auch die sauerstoffabbauenden chemischen Reaktionen. Das geschmolzene Eisen sammelt sich am Boden des Reaktors, und anstelle von Kohlendioxid wird Sauerstoffgas freigesetzt. Da die Verunreinigungen weitgehend aus der Reaktion herausgehalten werden, kann das MOE-Verfahren auch minderwertiges Eisenerz verarbeiten, was laut Carneiro ein großer Vorteil der Technologie sein könnte. Der Stahlherstellungsprozess von Boston Metal wurde Mitte der 2000er Jahre von den MIT-Materialforschern Donald Sadoway und Antoine Allanore entwickelt. Die Experimente wurde in kleinen Reaktoren von der Größe einer Kaffeetasse durchgeführt; diese Laborversionen produzieren innerhalb weniger Tage eine erdnussgroße Menge Eisen.

Eine der größten Herausforderungen bei der Umstellung auf größere Reaktoren ist die Stabilität der verwendeten inerten Anode, einem Metallstück aus einer Mischung aus Stahl und Chrom, sagt Stephan Broek, Senior Vice President of Technology bei Boston Metal. Wenn der Reaktor ordnungsgemäß funktioniert, nimmt die Anode nicht an der Reaktion teil: Sie sorgt lediglich dafür, dass der Strom durch die Zelle fließt. Die Anode neigt jedoch dazu, sich zu zersetzen, wenn das Gleichgewicht der Vorgaben wie der Stromverteilung und Elektrolytchemie nicht ganz stimmt.

Diese und andere Herausforderungen könnten mit dem neuen Pilotreaktor, der etwa tausendmal voluminöser ist als die Forschungsversion, noch größer werden. Der neue Reaktor kann mit einer Stromstärke von bis zu 25.000 Ampere betrieben werden. Er ist mit mehreren Anoden ausgestattet und verfügt über alle Merkmale der späteren ersten Zelle in Industriegröße, die noch zehnmal größer sein wird.

Der Bau des Pilotreaktors ist fast abgeschlossen, und die Tests sollen im August beginnen. Zunächst soll er mit Kohlenstoffanoden zur Herstellung von Ferrolegierungen verwendet werden – also von hochwertigen Metallen, die in einem Elektrolyseverfahren ähnlich dem zur Stahlerzeugung hergestellt werden können. Nach der Erprobung des Reaktors für dieses Produkt plant das Team, das System Anfang nächsten Jahres für die echte Stahlerzeugung umzubauen, so Broek.

Die Inbetriebnahme des Pilotreaktors ist einer der größten verbleibenden Meilensteine von Boston Metal vor dem Bau eines Demonstrationsprojekts in kommerzieller Größe, das aus fünf aneinandergereihten größeren Zellen bestehen und 2026 fertiggestellt werden soll. Das Startup-Unternehmen ist dabei, das Geld für die Realisierung dieses Projekts aufzubringen. Sobald eine kommerzielle Anlage in Betrieb ist, plant die Firma, ihre Technik an andere zu lizenzieren und mit bestehenden Stahlherstellern zusammenzuarbeiten, um die Reaktoren zu installieren und zu betreiben.

Ein Verfahren wie MOE, das in der Branche neu ist, würde jedoch einige Zeit brauchen, um sich in die bestehenden Systeme zu integrieren. "Es braucht noch einige Jahre der Erprobung und Demonstration, um zu beweisen, dass man es tatsächlich skalieren kann", sagt Max Åhman, Professor für Energie- und Umweltsysteme an der Universität Lund in Schweden. "Und man weiß noch nicht wirklich, was es kosten würde." Andere neue Ansätze, die sich derzeit in der Erprobungsphase befinden, lassen sich laut Åhman möglicherweise einfacher beweisen und skalieren. Insbesondere ein Verfahren namens "Direktreduktion", das heute schon weit verbreitet ist, kann so modifiziert werden, dass emissionsfreier Stahl entsteht.

Bei der Direktreduktion wird in der Regel Erdgas verwendet, um mit festem Eisenerz zu reagieren und Eisen zu gewinnen. Wie bei der Verhüttung in einem Hochofen wird auch bei diesem Verfahren Kohlendioxid freigesetzt, da der Kohlenstoff im Gas, bei dem es sich größtenteils um Methan (das ebenfalls ein starkes Klimagas ist) handelt, mit dem Sauerstoff im Erz reagiert, um ihn vom Eisen zu trennen. Wenn jedoch Wasserstoff anstelle von Erdgas verwendet wird, wird stattdessen Wasserdampf freigesetzt.

Der schwedische Stahlhersteller SSAB baut eine große Pilotanlage zur Erprobung der wasserstoffbetriebenen Direktreduktion, die um das Jahr 2026 in den industriellen Maßstab überführt werden soll. Carneiro räumt ein, dass Stahlhersteller, die Wasserstoff verwenden, einen Vorsprung haben könnten, obwohl er argumentiert, dass MOE letztendlich für Stahlhersteller attraktiv sein wird, vor allem weil ein breiteres Spektrum an Ausgangsmaterialien verwendet werden kann als nur das für die Direktreduktion erforderliche hochwertige Erz. Unabhängig davon, ob die Stahlhersteller auf Wasserstoff oder ein strombetriebenes System wie das MOE-Verfahren von Boston Metal zurückgreifen, werden sie jedoch viel mehr erneuerbaren Strom benötigen, um die Emissionen tatsächlich zu senken.

Eine Schätzung von Forschern der Columbia University ergab, dass bei einer Umstellung der weltweiten Stahlproduktion in Hochöfen auf das MOE-Verfahren von Boston Metal mehr als 5.000 Terawattstunden Strom für deren Betrieb benötigt würden – sagenhafte 20 Prozent des weltweiten Stromverbrauchs im Jahr 2018. Die Herstellung von Stahl mit Wasserstoff wäre ebenfalls mit einem hohen Strombedarf verbunden, um den Wasserstoff zu erzeugen.

Wenn dieser Strom aus fossilen Brennstoffen stammt, wäre die Umstellung der Stahlerzeugung auf Strom nur ein Tausch einer Emissionsquelle gegen eine andere. Wenn das Reaktionsmittel jedoch aus erneuerbaren Energien oder anderen kohlenstofffreien Quellen stammt, könnte das die Klimagase erheblich verringern. Was ebenfalls hinzukommt: Die Forscher stellten fest, dass die Strompreise erheblich sinken müssten, um das Verfahren wirtschaftlich zu machen.

Trotz der vielversprechenden neuen Technologien liegt also noch ein langer Weg vor uns, bis sie tatsächlich zu einer Verringerung der Emissionen führen. "In der Stahlindustrie wird viel Greenwashing betrieben und die Leute sind oft zu optimistisch, was die Fortschritte in einem sehr frühen Stadium angeht", sagt Rebecca Dell, Leiterin des Industrieprogramms der gemeinnützigen Organisation ClimateWorks.

"Wenn man nicht aufpasst, kann man die Begeisterung über Projekte im Anfangsstadium leicht mit echten Fortschritten verwechseln", fügt sie hinzu. Boston Metal mag noch viele Schritte vor sich haben, um grünen Stahl in großem Maßstab zu produzieren, aber zumindest Chef Carneiro freut sich darauf, den Weg weiterzugehen. Er sprudelt über, wenn er die Pläne des Unternehmens beschreibt und über die Zukunft nachdenkt. "Ich glaube nicht, dass es auf der Welt eine so große Chance wie diese gibt", sagt er. "Man braucht Stahl für alles." Und da mittlerweile alle Augen auf eine Industrie gerichtet sind, die zu den größten Verursachern von Kohlendioxidausstößen auf dem Planeten gehört, fügt er hinzu, "ist das Gefühl der Dringlichkeit jetzt da". Hinzu kommen die hohen Erdgaspreise und Verfügbarkeitsprobleme.

Update

Ampere-Wert Haushalte entfernt.

(bsc)