"Wir wollen, dass digitale Bildung Teil der Bildungslandschaft wird"

Seite 2: Cleverly – "Dieses ganze Thema: 'Wie geht es Max eigentlich – aktuell?', das wird in der Schule klassischerweise gar nicht behandelt"

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Sie sind gerade nicht nur Ansprechpartner der Interessengemeinschaft (iddb), sondern vertreten auch Ihr eigenes Unternehmen Cleverly. Wie und wann ist Cleverly entstanden?

Ja, ich habe vor eineinhalb Jahren mit Cleverly einen digitalen Bildungsanbieter gegründet – gemeinsam mit meiner Frau, die heute CFO von Cleverly ist. Ich selbst habe 1999 Abitur gemacht und mich dann durch die eigenen schulpflichtigen Kinder wieder verstärkt mit der Schule beschäftigt, um dann festzustellen – ojemine – so richtig viel hat sich nicht getan. Das war die erste Erkenntnis.

Die zweite Erkenntnis war, dass ich von dem, über das mein Vater heute sagen würde, "deshalb ist aus ihm etwas geworden", erschreckend wenig in der Schule gelernt habe. Das war für mich – auch auf ganz persönlicher Ebene – ein Grund, Bildungsunternehmer zu werden.

Ich kann das aber auch noch einmal genauer ausführen: Wenn wir heute auf Schulen schauen, dann braucht es grundlegende Veränderungen bei den Themen: Was lehren wir und wie lehren wir? Ich habe vor ein paar Wochen Zahlen gehört, dass 76 Prozent der Oberstufenschüler orientierungslos und mit Angst ins Arbeitsleben übergehen. Das, finde ich, ist eine schockierende Bestandsaufnahme. Wie bereitet die Schule aufs Leben vor? Denn da gibt es die "Fächer-Themen" und – lassen Sie mich das so nennen – emotionale Persönlichkeitsthemen, die aber in unserem stromlinienförmigen Schulsystem pädagogisch-fachlich nicht mit aufgegriffen werden. Denn dann bräuchte es so Anbieter wie Cleverly nicht – und das fände ich großartig. Ich glaube nur nicht, dass das Schulsystem das so schnell schafft – und deshalb sind wir auch mit so einem Alternativangebot unterwegs.

Das wäre das Live-Coaching-Thema, das auch schon Teil Ihres vorherigen Startups war, nämlich unter dem Claim "I make you sexy". Nun ist es, wenn man das so sagen darf, "I make you clever". Wie muss man sich die Nachhilfe oder das Coaching bei Cleverly vorstellen?

Als ich mir mit meiner Frau überlegt habe, Cleverly zu machen, war uns rasch klar: Wir wollen keine Plattform oder eine Bildungsplattform bauen, die Einserschüler ausspuckt, weil unter anderem ich der Überzeugung bin, dass Noten nicht der heilige Gral sind. Sie entscheiden nicht initial darüber, ob jemand am Ende wirklich ein guter Arzt ist oder wirklich ein glückliches Arbeitsleben führt. Persönlich bin ich daher der Überzeugung, dass wir Noten entmachten sollten. Das heißt: Nachhilfe ist im klassischen Sinne eigentlich erst einmal "Notenverbesserung".

… und das eigentlich auch nur für die, die sich das leisten können.

Exakt. Und wir haben festgestellt, dass hinter der Fünf in Mathe, die für den Vater sehr besorgniserregend ist, häufig mehr steckt. Das ist im Übrigen auch der durchschnittliche Kunde bei uns: "Das ist mein Sohn Max, achte Klasse, wenn der nicht auf 'ne Drei kommt, bleibt der sitzen"; das ist eine Bedrohungssituation.

Wenn dieser Kunde zu uns kommt, passieren zwei Sachen: Auf der einen Ebene verknüpfen wir Max mit einer sehr guten Nachhilfelehrerin oder einem sehr guten Nachhilfelehrer, um in Mathe besser zu werden. Aber wir haben festgestellt, dass normalerweise – in den meisten Fällen – unter dieser Fünf in Mathe nicht das Lernen des Dreisatzes des Rätsels Lösung ist, sondern ganz viele Persönlichkeitsthemen. Das ist die andere Ebene.

Max hat vielleicht Schul- und Prüfungsangst. Er hat vielleicht nie gelernt zu lernen. Er hat vielleicht Selbstbewusstseinsthemen. Da setzen wir an, wir sagen dann Max' Papa: "Wir machen das mit der Nachhilfe, aber was halten Sie davon, wenn einer unserer Mentoren den Max mal kennenlernt, und wir uns mit ihm unterhalten und schauen, was sonst noch so bei ihm im Leben passiert."

So etwas klären wir im Erstgespräch. Im Zweitgespräch reden wir dann mit den Eltern von Max, um ihn durch die Augen der Eltern kennenzulernen. Und so zeigen sich dann häufig auch die Probleme, die darunter gelagert sind. Die Nachhilfe und das Thema Persönlichkeitsentwicklung passieren dann parallel.

Und um hier den Schwenk zu machen: Dieses ganze Thema: "Wie geht es Max eigentlich – aktuell?", wird in der Schule klassischerweise gar nicht behandelt, denn wie soll eine Lehrkraft das für alle abbilden? Und bei den anderen Nachhilfeanbietern wird das normalerweise auch nicht gemacht, denn da geht es allein um die Notenverbesserung.

Die Kombination ist das, was mir als Vater in der Schule gefehlt hat – wo ich denke: So muss man da doch rangehen.

Welche Ausbildung haben denn Ihre Mentoren fürs Coaching? Sind da zum Beispiel auch Psychotherapeuten dabei?

Das sind alles Pädagoginnen und Pädagogen – die im Übrigen alle bei uns fest angestellt sind – und die kommen selbst aus unterschiedlichen Bereichen. Das heißt beispielsweise, dass wir eine Kollegin haben, die vorher vier Jahre lang eine Integrationsklasse geleitet hat. Wir haben Gymnasiallehrer. Wir haben jemanden, der vorher vier Jahre bei der Berliner Hotline für häusliche Gewalt gegen Frauen war – also ganz unterschiedliche Menschen.

Aber – und das ist auch sehr wichtig – da wo Therapie anfängt, sind wir dann nicht mehr aktiv. Alles, was wirklich therapeutisch ist, zum Beispiel Hochsensibilität, ADHS, da unterstützen wir die Familien dabei Therapeuten und Jugendpsychologen zu finden. Das ist nicht Teil von Cleverly, aber eben alles davor – und da gibt’s ne Menge – das ist da, wo wir dann unterstützen können.

Sammeln Sie bei der Rekrutierung Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denn auch Menschen ein, die eigentlich im Schulwesen waren, aber von dem Schulsystem an sich frustriert sind?

Ja, genau. Die sich gewünscht hätten, viel intensiver und individueller mit den Kindern zu arbeiten – die Persönlichkeitsförderung und Potenzialerkennung wichtig finden. Die dann feststellen mussten, dass sie in diesem "Apparat" mit ungefähr 27 oder 28 Kindern und Stoff der durchgeprügelt werden muss, ihrer Vorstellung vom Lehrerdasein nicht wirklich nachkommen können. Von denen bewerben sich bei uns tatsächlich viele.

Artikelserie "Schule digital"

(kbe)