Wollen Sie ewig leben?
Seite 2: Wollen Sie ewig leben?
Unermüdlich wie ein Missionar hat de Grey für seine Sache gearbeitet, ist den entsprechenden universitären Vereinigungen beigetreten und hat in jedem ihm verfügbaren Medium gepredigt, sogar sein eigenes internationales Symposium ausgerichtet. Er und seine Ideen mögen einzigartig sein, doch de Grey ist alles andere als ein einsamer Mönch, der seine Philosophie nur dem Himmel und dem Wüstenwind vorträgt. Neben all seinen anderen Fähigkeiten besitzt er auch noch ein besonderes Organisationstalent und hat seiner Gemeinschaft sogar einen Markennamen verpasst. Beeindruckend ist schon die schiere Menge von dem, was er schriftlich oder mündlich hervorbringt. Alles davon, ob es an hochgebildete Wissenschaftler oder an Laien gerichtet ist, ist in demselben linearen, klaren, und systematischen Stil verfasst, der all seine Texte über die Verlängerung von Leben auszeichnet. Wie ein Profi-Redner beantwortet er Einwände, noch bevor sie überhaupt aufkommen und erschlägt den Gegner mit seiner kraftvollen Rhetorik, in der gerade soviel Geringschätzung steckt, dass seine Ungeduld mit den Nachzüglern beim Marsch zu extremer Langlebigkeit offenbar wird.
Auf den Treffen der wissenschaftlichen Gesellschaften ist de Grey eine bekannte Figur, dort hat er sich den Respekt vieler Gerontologen verdient, ebenso wie die Achtung von einer neuen Art von Theoretikern, den "Futuristen”. Seine Arbeit hat ihn nicht nur an die vorderste Front eines Feldes gebracht, das man am besten mit dem Begriff "theoretische Biogerontologie” umschreibt. De Grey ist auch dem wissenschaftlichen Mainstream so nahe, dass einige der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet bereits als Co-Autoren mit ihm zusammen veröffentlicht haben, auch wenn sie seinen Thesen nicht in vollem Umfang zustimmen mögen. Zu den prominentesten gehören hoch angesehene Forscher wie Bruce Ames von der Universität von Kalifornien und Leonid Gavrilov und S. Jay Olshansky von der Universität von Chicago.
Ihre Einstellung gegenüber de Grey fasst Olshansky vielleicht am besten in Worte: "Ich bin ein großer Fan von Aubrey; ich liebe die Diskussionen mit ihm. Wir brauchen ihn. Er fordert uns heraus und erweitert unsere Denkweise. Ich stimme mit seinen Schlussfolgerungen nicht überein, aber in der Wissenschaft ist das in Ordnung. Nur so entsteht Fortschritt.” De Greys lebhaftes Bemühen hat eine Schar ernstzunehmender Wissenschaftler zusammengeführt, die in seiner Arbeit immerhin genug theoretischen Wert sehen, um sich nicht nur mit ihm auseinander zusetzen, sondern ihn auch -- vorsichtig -- zu bestärken. De Greys Vorschläge haben unter Wissenschaftlern und in der Öffentlichkeit großes Interesse für die Biologie des Alterns geweckt, sagt Gregory Stock, ein Futurist und Biotechnologe von der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Auch Stock hat schon gemeinsam mit de Grey veröffentlicht.
De Grey erfreut sich auch wachsender Bekanntheit außerhalb der Wissenschaft. Journalisten wenden sich oft an ihn, wenn sie ein Zitat über Anti-Aging brauchen, und er ist schon von so unterschiedlichen Zeitschriften und Zeitungen wie Fortune, Popular Science und der Londoner Daily Mail porträtiert worden. Seine unermüdlichen Anstrengungen haben ihn an die Spitze einer Bewegung gestellt, deren Ziel die Menschheit schon immer fasziniert hat. Der Zeitpunkt ist perfekt gewählt: Wir leben in einer Zeit, in der die Generation der Baby-Boomer gerade die 60 überschritten hat -- die von allen Generationen in der Geschichte der Menschheit vielleicht am meisten nach Selbstvervollkommnung streben, und die am meisten mit sich selbst beschäftigt sind. Unter ihnen setzten viele ihre Hoffnungen auf die Wundermittel, die de Grey verspricht. Er ist zu mehr als nur einer einzelnen Person geworden; er verkörpert eine ganze Bewegung.
An dieser Stelle sollte ich wohl erklären, das ich persönlich keinerlei Sehnsucht nach einem Leben verspüre, das über die Spanne hinausgeht, die die Natur unserer Spezies geschenkt hat. Aus pragmatischen, wissenschaftlichen, demografischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen, emotionalen und nicht religiösen, aber doch spirituellen Gründen bin ich der Meinung, dass sowohl der persönlichen Erfüllung als auch dem ökologischen Gleichgewicht auf diesem Planeten am besten gedient ist, wenn wir zu dem von der Biologie vorgegebenem Zeitpunkt sterben. In gleichem Maße setze ich mich dafür ein, dass dieser Punkt durch die moderne Biomedizin unserem wahrscheinlichen biologischen Maximum von ungefähr 120 Jahren so nahe wie möglich rückt, und dass auch die Krankheiten und Gebrechlichkeit des sehr hohen Alters gemindert werden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ein einziger Schritt über diese Grenze hinaus etwas anderes als Unheil nach sich zieht -- sowohl für jeden einzelnen von uns als auch für jedes lebende Wesen unserer Welt. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, mich jemals bei Alcor, dem Kryonik-Unternehmen anzumelden, so wie de Grey es getan hat; für ein entsprechendes Entgelt konserviert Alcor das Gehirn oder auch mehr von einem Kunden, bis zu jenem erhofften Tag, an dem dieser wieder in irgendeine Form von Leben zurückgebracht werden kann.
Ist es ein Wunder, dass ich bei dieser Weltanschauung von einem Aubrey de Grey fasziniert bin? Wie wäre es wohl, einem solchen Menschen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen? Nicht für eine wissenschaftliche Diskussion -- dieser Aufgabe wäre ich als praktischer Chirurg wohl kaum gewachsen --, sondern um ihm auf den Zahn zu fühlen, um herauszufinden, wie er sich unter gewöhnlichen Umständen verhält, um über meine Befürchtungen und seine Erwiderungen zu sprechen, um einen echten Einblick in seine Denkweise zu erhalten. Mir erscheint seine Philosophie absonderlich. Ihm würde es umgekehrt wahrscheinlich genauso gehen.
Mit diesen Gedanken kontaktierte ich de Grey im Herbst vergangenen Jahres per Email. Seine Antwort war freundlich, ja geradezu herzlich. Er redete mich mit meinem Vornamen an, und nicht nur wollte er mir den größten Teil von zwei Tagen widmen, er schlug auch vor, dass wir die Zeit auch möglichst in Reichweite von allerlei belebenden Flüssigkeiten verbringen sollten:
Ich hoffe, Sie wissen ein gutes englisches Bier zu schätzen, denn darin liegt unter anderem das (offene) Geheimnis meiner grenzenlosen Energie und meiner intellektuellen Kreativität (jedenfalls sehe ich das selbst gerne so ...). Ein guter Plan (also einer, der schon seit Jahren erfolgreich erprobt wurde!) ist ein Treffen um 11 Uhr am Montag den achtzehnten im Eagle, dem berühmtesten Pub von Cambridge; die Gründe für diesen Ruhm kann ich gerne noch darlegen. Von dort aus könnten wir, wenn es das Wetter erlaubt, auf der Cam punten (staken) -- eine Freizeitbeschäftigung, die ich gleich nach meiner Ankunft hier im Jahr 1982 lieben gelernt habe und die für jeden Besucher ein unvergessliches Erlebnis zu sein scheint. Wir können so lange reden, wie Sie mögen, und wenn nötig, können wir uns am Dienstag noch einmal treffen.
Diese Nachricht mitsamt ihrem Hauch von Unbescheidenheit sollte sich als charakteristisch erweisen. Von ähnlicher Art war auch seine Antwort, als ich ihm meine Bedenken bezüglich des "punten” mitteilte, die auf der Geschichte eines Freundes beruhten, der dabei an einem kalten Herbstag in die Cam gefallen war: "Offensichtlich war ihr Freund ohne einen Experten unterwegs.” Nichts weniger als Expertentum scheint für de Grey angemessen, sobald er sich einer Sache mit jener erstaunlichen Energie annimmt, derer er sich in der Email rühmte. Ebensowenig vermag er sein Licht unter den Scheffel zu stellen.
Wer sich selbst als Herold und Werkzeug bei der Überwindung von Alter und Tod sieht, der muss natürlich über ein außerordentliches Selbstbewusstsein verfügen, und de Grey ist so unverfroren selbstbewusst, wie es nur möglich ist. Bald nachdem wir uns getroffen hatten, sagte dieser ungewöhnliche Mensch zu mir, dass "man schon eine überhöhte Meinung von sich selbst” benötige, wenn ein so bedeutendes Unternehmen von Erfolg gekrönt sein solle. "Die habe ich!”, fügte er in leidenschaftlichem Tonfall hinzu. Bei unserem Abschied, nach dem wir an zwei Tagen insgesamt zehn Stunden miteinander verbracht hatten, war ich davon überzeugt, dass viele seiner Selbsteinschätzung zustimmen würden. Egal ob man ihn für einen brillanten und prophetischen Architekten einer künftigen Biologie hält oder eher für einen fehlgeleiteten und verrückten Theoretiker, über seinen beeindruckenden Intellekt kann kein Zweifel bestehen.