Zahlen, bitte! 160 Flugschriften – Erste SPAM-Welle der Frühneuzeit
Im 16. Jahrhundert brachte eine panisch in vielen Flugschriften verbreitete Warnung vor einer Sintflut die Astrologie in Erklärungsnot: Sie blieb einfach aus.
Vor 500 Jahren hatten die Menschen große Angst vor einer großen Flut, die im Februar 1524 kommen sollte: Viele verkauften ihre nahe am Wasser gelegene Grundstücke weit unter Wert. Die Elbe wurde in Hamburg beobachtet, in London die Themse, in Rom der Tiber. In Toulouse evakuierte man die Bevölkerung auf einen Berg, der Garonne traute man ohnehin nicht. In Nürnberg an der Pegnitz wurden die Ausländer in höher gelegenen Häusern einquartiert.
Grund war eine astrologische Wetterwarnung des Mathematikers und Astronomen Johannes Stöffler aus Tübingen und des Astronomen Jakob Pflaum aus Ulm. Sie wurde 1499 in ihrem "Almanach nova plurimis annis venturis inservientia" (Neuer Almanach für viele kommende Jahre) veröffentlicht und sagte recht unspezifisch eine Umweltkatastrophe für den Februar 1524 voraus. Die Warnung verbreitete sich in 160 verschiedenen Flugschriften – wie heutzutage E-Mail-Spam – in ganz Europa und befeuerte die Auseinandersetzungen um die Reformation. Beide Seiten, die Papstgläubigen wie die Abtrünnigen, beschworen sofort das Bild einer vernichtenden Sintflut herauf, in der die jeweils die andere Seite ersaufen würde. Ganz nebenbei etablierte sich so die moderne Meteorologie.
Astronomie und Astrologie in Verbindung
Um 1500 waren Astronomie und Astrologie noch nicht getrennt. Der Reformator Martin Luther sah die astrologischen Deutungen zwar skeptisch: "Was von Gott geschieht und sein Werk ist, das soll man dem Gestirn nicht zuschreiben." Sein wichtigster Mitstreiter Philipp Melanchthon begeisterte sich jedoch sehr für sie. Schließlich hatte Melanchthon bei Johannes Stöffler in Tübingen studiert, der 1499 mit Jakob Pflaum mit dem Almanach eine Ephemeridentafel für die nächsten 32 Jahre veröffentlichte. Diese setzte das Werk von Regiomontanus und Johannes Kepler fort. Weil für einen so langen Zeitraum vorausberechnet, erfuhr der Almanach viele Auflagen und war sehr einflussreich – wie seinerzeit üblich machte man sich auch Gedanken um die Zukunft.
Bei der Berechnung künftiger Planetenbahnen kamen sie für das Jahr 1524 zu diesem Resultat:
"In diesem Jahr werden wir weder eine Sonnen- noch eine Mondfinsternis zu Gesicht bekommen, aber in demselben Jahr werden die erstaunlichsten Stellungen der Planeten eintreten. Im Monat Februar werden nämlich zwanzig nicht nur kleine und mittlere, sondern auch große Konjunktionen sich einstellen, von denen sechzehn das wässerige Sternzeichen besetzen werden, die fast dem gesamten Erdkreis, den Klimazonen, Reichen, Ländern, Ständen, Würdenträgern, den vernunftlosen Geschöpfen, den Tieren des Meeres und allen auf Erden Geborenen eine unzweifelhafte Veränderung, Verwandlung und Verkehrung anzeigen werden, wie wir sie wahrhaftig seit vielen Jahrhunderten weder von den Geschichtsschreibern noch von den Voreltern kaum je vernommen haben. Erhebt also eure Häupter, ihr christlichsten Herren!"
Vorhersage löst Flugblatt-Spamwelle aus
Wer genau liest, wird keine Prognose einer Sintflut finden. Nur das "wässerige Sternzeichen" des Fisches gibt eine Andeutung, was drohen könnte. Was für den Februar 1524 recht vage vorhergesagt wurde, löste das aus, was wir heute eine Spamwelle nennen. "Zugleich aber entfesselte diese Prognose einen regelrechten Flugschriftensturm, der sich zuerst in Italien erhob, von hier nach Norden zog, dann Süddeutschland, die Schweiz, Österreich und Sachsen, im Westen Flandern und Teile Frankreichs erreichte, sich über der Iberischen Halbinsel ausbreitete, schließlich auch Polen erfasste und mit einem Ausläufer noch England berührte. Mehr als sechzig Autoren mit über einhundertundsechzig Drucken waren daran beteiligt", heißt es in "Grammatik der Sterne und Ende der Welt", einem 1988 für die Zeitschrift Kultur und Alltag verfassten Artikel von Hubertus Fischer über die Sintflutprognose von 1524.
Zu den wichtigsten Autoren, die sich mit der Vorhersage beschäftigten, gehört Johannes Carion, der Astrologe des Markgrafen von Brandenburg. Er war wie Melanchthon ein Schüler von Johannes Stöffler und veröffentlichte 1521 seine Schrift "Prognosticatio und erklerung der grossen wesserung und anderer erschrockenlichenn würckungen." In seiner Prognose schrieb Carion, dass eine Flut möglich sein kann, aber dass es keine Sintflut sein würde. Viel wichtiger sei, dass die Menschen ihren Glauben an Gott angesichts der Katastrophe nicht verlieren. Ähnlich argumentierte auch der Nürnberger Astronom Leonhard Reinmann, der 1523 die Flugschrift "über die großen und mannigfeltigen Conjunction der planeten, die im jar 1524" erscheinen veröffentlichte.
Die Titelseite der Schrift kam vom Nürnberger Künstler Erhard Schön. Sein Holzschnitt zeigte einen großen Fisch mitsamt der Planetenkonjunktion von Saturn, Jupiter, Venus, Mars, Merkur und der Sonne, mit einem Mond im letzten Viertel. Im Bauch des Fisches schwimmt ein Skelett, während dieser das tödliche Wasser auf die Erde regnen lässt. Rechts davon zittern der Kaiser, der Papst und seine Kardinäle vor der Flut, links sieht man aufständische Bauern, angeführt von Saturn, am Stelzfuß zu erkennen. Damit deuteten Schön und Reinmann die sich anbahnenden Bauernkriege an. Reinmanns Schrift wurde von Albrecht Dürer gelesen, der 1525 aus einem Alptraum erwachte und mit seinem "Traumgesicht" die wohl eindrucksvollste Illustration der Sintflut schuf.
Tobender Reformationskampf der Kirchen
Die vielen Flugschriften hatten auch damit zu tun, dass nach dem Reichstag zu Worms 1521 beide Seiten im damals tobenden Religionskampf die Prognose von Stöffler und Pflaum zu ihren Gunsten auslegten. Der Reformator Philipp Melanchthon glaubte, dass der Papst und seine Nomenclatura ertrinken wird, der polnische Theologe Jan Plonsk (Johannes Plonisco) hoffte in seiner drastischen Abhandlung, das "Luther und seine Schweine" im Februar weggeschwemmt werden. Die Sintflutangst wurde durch Naturereignisse wie der beobachteten Haloerscheinung in Wien anno 1520 gesteigert, die natürlich auch durch Flugschriften verbreitet wurde.
Doch es gab nicht nur aufstachelnde Flugschriften. Bereits 1514 erschien eine kommentierte und gedruckte Ausgabe des 1248 von Albertus Magnus verfassten Werks "De natura locorum", in der das Wetter unter Berücksichtigung der geografischen Lage eines Ortes beschrieben wurde. Die Kommentare stammten vom Wiener Mathematiker und Astronomen Georg Tannstetter, der einen neuen Studiengang an der Universität Wien einführte. Seine "physische Geografie" unter Rückgriff auf Magnus gilt als Geburtsstunde der modernen Meteorologie und Klimatologie. Im Getöse der Flugschriften veröffentlichte Tannstetter 1523 das libellus consolatorius. Diese "Beruhigungsschift" auch Trostbüchlein genannt, die die von den Flugblättern aufgescheuchte Bevölkerung mit wissenschaftlichen Argumenten beruhigen sollte, zählte alle möglichen vergleichbare Planeten-Konstellationen der Vergangenheit auf, an denen genau nichts passierte.
Auch der bereits erwähnte Nürnberger Reinmann dachte ähnlich. Er veröffentlichte seit etwa 1505 ein häufig nachgedrucktes Wetterbüchlein, das die Grundzüge der Wetterbeobachtung vermittelte. Als das Jahr 1524 mit seinem freundlichen Wetter vorüber war, und die Astrologen-Spamblätter Lügen strafte, veröffentlichte er die "Practica von warer erkentnis des wetters. Also das ein ieder er sey gelert odder vngelert durch alle natürliche anzeigung die endrung des wetters eigentlich vnd augenscheinlich wissen vnd erkennen mag gezogen vnd gegründ aus den regeln der hochberümbten Astrologen vnd darzu durch die tegliche erfarung die ein meisterin ist aller kunst bewert". Durch die Astrologie-Spamschriften erwuchs immerhin der Erkenntnisgewinn über das Wetter.
(mawi)