Zahlen, bitte! 500 Millionen Mark pro Monat: der Zusammenbruch der DDR

Seite 2: Eine Art Revolution

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Doch bis zur Verabschiedung und Einführung des Reisegesetzes im November passierte Unvorhergesehenes. Auf einer Sitzung des Politbüros der SED am 17. Oktober wurde Erich Honecker auf Vorschlag von Willi Stoph, dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, abgewählt. Zur Überraschung aller Teilnehmer fiel der Beschluss einstimmig, wie Schürer in seinen Notizen festhielt. Mit Egon Krenz war schnell den passenden Nachfolger gefunden. Am 18 Oktober tagte das Zentralkomitee der SED: Vor 47 ZK-Mitgliedern und 159 Bezirksvorsitzenden bat Honecker aus gesundheitlichen Gründen um den Rücktritt. Krenz schlug umgehend der Bundesregierung in Bonn eine "vertiefende Zusammenarbeit" vor, bestand jedoch auf der "Respektierung" der DDR-Staatsbürgerschaft, die er unverhandelbar nannte.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Am 6. November reiste der DDR-Beauftragte Alexander Schalck-Golodkowski zum CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble und zu Kanzleramtsminister Rudolf Seiters. Er sollte erreichen, dass sich die Bundesregierung kurzfristig am geplanten Reisegesetz mit einem Kredit in der Höhe von 12 Milliarden bis 13 Milliarden DM beteiligt. Als Sicherheit wären die jährlich anfallenden 3,8 Milliarden DM ausreichend, um die der Kredit verringert würde. Die BRD zeigte sich gesprächsbereit, setzte aber über das Reisegesetz hinaus ganz andere Forderungen: Die SED sollte das Machtmonopol aufgeben und allgemeine freie Wahlen ermöglichen. Diese Forderungen wurden auch im Westfernsehen bekannt gegeben, während die Verhandlungen zum Reisegesetz und der gewünschte Kredit verschwiegen wurden. Die nach wie vor mächtige Sowjetunion sollte nicht erfahren, wie eng die DDR ihr Überleben an das Wohlwollen der BRD knüpfte.

Michail Gorbatschow und Erich Honecker auf dem XI. Parteitag der SED im April 1986: Lange hielt die gute Stimmung zwischen Honecker und Gorbatschow nicht an

(Bild: Rainer Mittelstädt, Bundesarchiv, Bild 183-1986-0421-049, Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0)

Am 8. November 1989 begann die schicksalsreiche ZK-Tagung, auf der "die Wende" (Egon Krenz) beschlossen werden sollte. Am ersten Tag ging es um Personalfragen, am zweiten um die "Kulturpolitik". Hinter dieser Frage verbarg sich eine heftige Debatte über den Umgang mit den Massendemonstrationen, die die DDR erschütterten. Am 9. November um 15.50 Uhr kam schließlich das neue Reisegesetz an die Reihe, das die alten Reiseverordnungen ablösen sollte. "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. /.../ Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen."

Über die neue Regelung sollte am 10. November eine Pressemitteilung veröffentlicht werden, jedoch sollten die Pressereferenten Günter Schabowski, Manfred Banaschak, Gerhard Beil und Helga Labs noch am Abend vor die internationale Presse treten und das neue Reiseverfahren erläutern, ohne freilich das konkrete Prozedere und die "Reisekostenübernahme" durch die BRD zu erläutern. Dabei passierte dann ein historisches Missgeschick. Die Grenzen zwischen Ost und West wurden in Berlin nach Ausstrahlung der Tagesschau "geflutet".

Die Pressekonferenz mit Günter Schabowski, bei der er "aus Versehen" die Grenzöffnung verkündete

(Bild: Thomas Lehmann, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1109-030, Lizenz Creative Commons CC BY-SA 3.0 DE)

Die Mitglieder im ZK bekamen von alledem nichts mit. Sie schauten kein Fernsehen, Westfernsehen schon gar nicht. Um 20 Uhr debattierten sie die Westverschuldung und der Bericht, den der Leiter der ZK-Abteilung Finanzen, Günter Ehrensperger ablieferte, entsetzte die Anwesenden. Er erklärte, dass "wir mindestens seit 1973 Jahr für Jahr über unsere Verhältnisse gelebt und uns etwas vorgemacht haben. Und wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart arbeiten und weniger verbrauchen als wir produzieren." "Da laufen uns die Leute weg!", lautete ein Zwischenruf, als längst die Leute liefen – und alle Pläne um schöne Reisekredite zunichtemachten.

Wie desolat die ökonomische Situation der DDR war, machte schließlich Gerhard Schürer dem ZK-Plenum am 10. November klar. Er prangerte die Verrottung der Industrie, die Subventionen und Verschuldungen an. Sein Vertreter Werner Jarowinsky ging besonders mit der Mikroelektronik hart ins Gericht und verglich die enormen Produktionskosten der Chips inklusive des Megabit-Chips mit den Weltmarktpreisen. 12 Milliarden bis 14 Milliarden Mark seien so einer reinen Kommandowirtschaft zum Opfer gefallen, resümierte Jarowinsky bitter.

Nach Öffnung der Mauer war die Frage der Einnahmen durch Reisegebühren vom Tisch. Als der designierte DDR-Ministerpräsident Hans Modrow während des ersten Treffens mit Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember um einen Kredit von 15 Milliarden ersuchte, kassierte er eine Absage. So konnte das Land nicht leben. (jk)