Zahlen, bitte! In 18 Meter Höhe und Unterhosen: Pionierflug über den Ärmelkanal
Der Flugpionier Jean-Pierre Blanchard überquerte nicht nur erstmals in der Luft den Ärmelkanal, sondern war auch sonst ein Pionier des Ballonflugs.
(Bild: heise online)
Was heutzutage zum Alltag gehört, war vor knapp zweieinhalb Jahrhunderten eine Sensation: Vor 240 Jahren überquerten Jean-Pierre François Blanchard und John Jeffries mit einem Wasserstoffballon am 7. Januar 1785 den Ärmelkanal. Sie starteten bei ruhigem, klarem Wetter von einem Turm des Dover Castle um ein Uhr mittags und landeten nach zweieinhalb Stunden Flug im Foret de Felmores bei Guînes.
Zum Schluss setzte ihr Ballon mit einem Durchmesser von 8,2 Metern zu einem Sinkflug mit 600 Höhenmetern pro Minute an und die beiden Ballonfahrer mussten den gesamten Ballast, Instrumente, Flugblätter, ihre Wetterschutzkleidung und schließlich die ruderartige Steuerung des Korbes abwerfen.
In Unterhosen und mit Schwimmwesten in der Takelage hängend erreichten sie Frankreichs Küste in nur noch 18 Metern Höhe über dem Meer. Dennoch war die Pioniertat ein voller Erfolg und wurde gebührend gefeiert.
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Wie risikoreich das Unternehmen war, zeigte sich am 17. Juni desselben Jahres, als die Konkurrenz mit Pilâtre de Rozier und Pierre Romain in einer Roziere beim Flug in umgekehrter Richtung tödlich verunglückten.
Der Ballonflug faszinierte die Beobachter
Der Start der bemannten Luftfahrt begann mit den Heißluftballons der Gebrüder Montgolfier. Ein Augenzeuge beschrieb die damals sensationelle Luftreise: "Es ist unmöglich, diesen Moment zu beschreiben – die Frauen in Tränen; das gemeine Volk, das in tiefem Schweigen die Hände zum Himmel erhebt; die Passagiere, die sich aus der Galerie lehnen, winken und vor Freude schreien ... das Gefühl des Schreckens weicht dem Staunen."
(Bild: gemeinfrei)
1782 folgten die Gasballons des Physikers Jacques Alexandre César Charles. Diese basierten auf den neuesten Forschungen zur Produktion von Wasserstoff ("brennende Luft") von Cavendish und Lavoisier. Während sich Charles nur für physikalische Messungen interessierte (und rund 3400 Meter Höhe erreichte), waren die Ballonfahrten von Blanchard spektakuläre Großereignisse der besonderen Art. Schon für die dreitägige Vorbereitung eines Ballonfluges mit der Produktion von Wasserstoff aus Eisenspänen und Schwefelsäure verkaufte er Billets, deren Preis sich zum Abflug erhöhte.
Belegt ist der Verkauf von 2000 Billets für zwei Reichstaler bei seinem 20. Ballonflug in Hamburg 1786. Der exorbitante Eintrittspreis wurde vom Ballonschausteller Blanchard mit dem angekündigten Abwurf eines Schafes an einem Fallschirm aus großer Höhe begründet.
Ärmelkanal-Überquerung aus Marketinggründen
Mit der Ballonreise über den Ärmelkanal verfolgte Jean-Pierre Blanchard nach mehreren geglückten Starts und Landungen in Frankreich das Ziel, seinen Namen europaweit bekannt zu machen. Da die Finanzierung des Abenteuers mit Luftpostbriefen nicht ausreichte, musste Blanchard ein Angebot des britischen Arztes John Jeffries akzeptieren, der für 500 Pfund mitfliegen wollte. Der in Boston, USA, geborene Jeffries hatte sich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf die Seite der Royalisten gestellt und praktizierte nun als Arzt in London.
(Bild: National Air And Space Museum)
Er hatte bereits einen Ballonflug mit Blanchard über der Stadt absolviert, um die Qualität der "schrecklichen Luft" zu testen und zu messen. Zum Start der Kanalquerung in Dover versuchte Blanchard, ihn auszubooten, indem er zum Wiegen mit eingenähten Bleigewichten erschien und behauptete, die Gondel könne keine zweite Person tragen. Jeffries durchschaute den Trick und so musste der Start in Dover mit dem erleichterten Blanchard erfolgen.
Nach der knappen Landung wurde die Tat gebührend gefeiert. Blanchard erhielt vom König eine lebenslange Pension von 1200 Livres (dem Vorgänger des Franc), Jeffries die Anerkennung seiner amerikanischen Landsleute, insbesondere von Benjamin Franklin und John Adams. Letzterer sorgte dafür, dass Blanchard mit seinem Ballon im Jahre 1793 in Anwesenheit von Präsident Washington den ersten Flug auf amerikanischen Boden absolvieren konnte.
Ballonflug-Vorführungen in ganz Europa
Zu diesem Zeitpunkt hatte Blanchard ausgiebig vom grassierenden Ballonfieber in Europa profitiert. Aufsehen erregte sein erster Start auf deutschen Boden am 3. Oktober 1785 auf der Bornheimer Heide in der Nähe von Frankfurt am Main, wo deshalb sämtliche Fremdenzimmer ausgebucht waren. Blanchard flog 39 Minuten, warf einen Hund am Fallschirm ab und landete in Weilburg. Er wurde Ehrenbürger von Frankfurt und erhielt 50 Golddukaten als Belohnung, obwohl der Ballon beim Start mit schleifender Gondel einen erheblichen Flurschaden anrichtete. Blanchard zog weiter und stieg am 21. November in Gent auf.
(Bild: CC-BY-SA: Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz)
Dort hatte sein Ballon Überdruck, den Blanchard mit Löchern in der Ballonhülle ausgleichen wollte. Das missglückte, denn das Gas entwich viel zu schnell. Er musste sich selbst mit einem Fallschirm beim Absturz des Ballons retten.
Großer Andrang zum Ballonflug in Nürnberg
Als Blanchard am 17. November 1787 über Nürnberg in den Himmel aufstieg, sollen 50.000 bis 60.000 Zuschauer das Schauspiel beobachtet haben. Viele liefen dem wegtreibenden Ballon hinterher, was angeblich zur fränkischen Redensart "No schau’ ner hie, der rennt wie beim Blenscherd" geführt haben soll.
Nach Aufstiegen in Braunschweig 1788, Berlin 1788 und Hannover 1790 führte Blanchard 1791 mehrere Ballonfahrten in Wien durch. Eine dieser Demonstrationen sah Emanuel Schikaneder, der prompt eine Ballonfahrt in Mozarts Oper "Zauberflöte" einbaute. Mozart selbst schrieb begeistert über das Ballonieren in seinen Briefen, ohne selbst Blanchard gesehen zu haben.
Adolph Freiherr von Knigge verarbeitete die Ballonfahrt in Braunschweig in seiner Humoreske "Die Reise nach Braunschweig".
Blanchard feilte weiter an seiner "Bühnenschau", als er seine Familie verließ und 1804 die zierliche Marie Madeleine-Sophie Armant heiratete, die mit ihm gemeinsam etliche Ballonfahrten unternehmen und Kunststücke vorführen sollte, etwa indem sie sich auf einer Schaukel unter der Gondel präsentierte. Jean-Pierre und Sophie Blanchard waren so das erste Ehepaar, das den Ärmelkanal von Calais nach Dover in der Luft überquerte.
Tod im Flug
Am 7. März 1809 erlitt Jan-Pierre während einer Ballonfahrt mit seiner Frau einen Schlaganfall – vermutlich eine Folge von einem Absturz ein Jahr zuvor, von dem er sich nicht mehr erholte: Er verstarb noch am gleichen Tag.
Bedingt durch Geldnöte führte Sophie Blanchard die Tradition der Ballonfahrten fort und erweiterte das Show-Repertoire um gewagten Seil-Aktione und nächtliche Feuerwerks-Aufstiege. Sie wurde sowohl unter Napoleon Bonaparte wie unter Louis XVIII zur offiziellen kaiserlichen Aeronautin bzw. zur "Aeronautin der Restauration" ernennt und trat bei vielen höfischen Veranstaltungen auf.
(Bild: Paris : Romanet & Cie)
Am 6. Juli 1819 startete die Aeronautin zu einem nächtlichen Flug über das Pariser Tivoli, bei dem sie ein besonders umfangreiches Feuerwerk abbrennen wollte. Ihr Ballon fing dabei Feuer, sie musste allen Ballast abwerfen und driftete brennend über Paris. Schließlich blieb der Korb an einem Dach hängen und Sophie Blanchard stürzte sich zu Tode.
Die entsetzte Menschenmenge sammelte Geld für ihre Kinder. Als sich herausstellte, dass sie kinderlos war, wurde für die erste zu Tode gekommene Luftschifferin ein Denkmal in Auftrag gegeben, das heute auf ihrem Grab im Père Lachaise mit der Inschrift "Victime de son Art et de son Intrepidite" (Opfer ihrer Kunst und Unerschrockenheit). Ihr Tod ging in die Literaturgeschichte ein, als Fjodor Dostojewski sich in seinem Werk "Der Spieler" mit der Frage beschäftigte, was Sophie Blanchard beim Absturz wohl gedacht haben mag.
(mawi)