Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Menge: Ein Televisionär als Straßenfeger

Wolfgang Menge hat mit seinen Drehbüchern und Reportagen Fernsehgeschichte geschrieben. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.

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Die "beiden Wolfgangs" – Menge und Petersen – arbeiteten für diesen Öko-Thriller von 1973 zusammen.

(Bild: WDR)

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Bernhard Lotz aus Leverkusen läuft um sein Leben, drei professionelle Killer verfolgen ihn, die Hatz wird rund um die Uhr live im Fernsehen gezeigt, moderiert von Dieter Thomas Heck. Wenn Lotz sieben Tage überlebt und die Showbühne in Osnabrück erreicht, bekommt er das Preisgeld von einer Million Mark. Das ist der Plot der fiktiven Fernsehshow "Millionenspiel", den die ARD am 18. Oktober 1970 erstmals ausstrahlte und seinerzeit viel Aufsehen erregte.

Szene aus dem "Millionenspiel". Dieter Thomas Heck steht am Ende der "Todesspirale", die der Kandidat nach sieben Tagen passieren muss.

(Bild: WDR)

Das Drehbuch stammt vom Journalisten und Drehbuchautor Wolfgang Menge, der am heutigen 10. April 100 Jahre alt geworden wäre und am 17. Oktober 2012 starb. Indem er in seinen Drehbüchern und Dokumentationen früh gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Phänomene aufgriff oder Entwicklungen weiterdachte, gehört er in die Reihe anderer "Televisionäre" wie zum Beispiel Rainer Erler, der ebenfalls anspruchsvolle Unterhaltung konzipierte, oder wie Hoimar von Dithfurt und Horst Stern im Wissensfernsehen.

Für das "Millionenspiel" hatte Menge die Kurzgeschichte "The Prize of Peril" des US-amerikanischen Schriftstellers Robert Sheckley adaptiert – und damit vor gut 50 Jahren für das deutsche Fernsehen eine Entwicklung vorweggenommen, deren zweifelhafter vorläufiger Höhepunkt 1999 in den Niederlanden und im Jahr darauf hierzulande mit der Reality Show "Big Brother" erreicht wurde. Auch darin werden die Protagonisten von Kamera-Batterien während vieler ihrer Verrichtungen gezeigt.

Gejagt werden Menschen für Unterhaltungszwecke im Fernsehen noch nicht – jedenfalls nicht zu Tode –, wie es auch 1987 im US-Kinofilm "Running Man" gezeigt wurde. Sheckleys Idee wurde mehrfach verfilmt, so wie mit Arnold Schwarzenegger adaptiert von Stephen King; Menge hielt sich selbst zugute, sie als erster in den Rahmen einer fiktiven Fernsehshow verpackt zu haben. So rückte mehr der Aspekt der von den Medien perpetuierten Sensationsgier in den Vordergrund, der sich damals in den Grenzen der drei deutschen Fernsehkanäle hielt, spätestens mit dem Einzug des Privatfernsehens aber zu größerer Entfaltung kam, wenn Unbekannte vorgeführt und so prominent werden, so wie Bernhard Lotz aus Leverkusen.

Schon Anfang der 1970er Jahre schienen aber überreizte Fantasien im Fernsehpublikum auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Und ebenso könnte die Frage der Medienkompetenz den damaligen Fernsehverantwortlichen erstmals stärker unter den Nägeln gebrannt haben: "Fast 1000 Zuschauer riefen bei den deutschen TV-Redaktionen an, Hunderte schrieben empörte Briefe an Tageszeitungen oder beschwerten sich bei der Polizei", schrieb seinerzeit "Der Spiegel" zum "Millionenspiel". Manche Zuschauer haben sich gar mit kompletten Bewerbungsunterlagen als Gejagte oder Jäger an ihn gewandt, berichtete Tom Toelle, Regisseur des Fernsehfilms. Wer sich heutzutage das "Millionenspiel" anschaut, beispielsweise in der ARD-Mediathek, könnte das anhand der Machart und Ästhetik bezweifeln. Die Sehgewohnheiten haben sich halt geändert, auf Schwindel fallen die Menschen heute an anderen Orten der erweiterten Medienwelt herein.

Zur Täuschung der damaligen Zuschauer mag beigetragen haben, dass das Millionenspiel absichtlich als eine Art Dokumentarstück angelegt war, also authentisch wirken sollte. Eine Technik, die Menge auch für den Fernsehfilm "Smog" über eine fiktive tödliche Luftschadstoffkatastrophe im Ruhrgebiet anwandte, der Mitte April 1973 ausgestrahlt wurde. Fiktiv war der Film im Gegensatz zum "Millionenspiel" nicht komplett, lebensgefährliche Inversionswetterlagen gab es bis dahin schon, beispielsweise im Dezember 1952 "The Great Smog" in London. Menge war um Realitätsnähe bemüht, indem er aufzeigte, welche Vorkehrungen der nordrhein-westfälische Smog-Alarmplan vorsah. Dieser war der Öffentlichkeit eigentlich nicht zugänglich, der damalige Dramaturg Peter Märtesheimer konnte sich ihn aber beschaffen.

Wolfgang Menge (l.) zusammen mit Heinz Schubert (r.) und Diether Krebs, die in "Ein Herz und eine Seele" ständig aneinander geraten.

(Bild: WDR)

Auch zu der Gelegenheit sollen sich besorgte Zuschauer an den WDR oder die Polizei gewandt haben, berichtete der WDR – und auch, dass 1979 tatsächlich erstmals im Ruhrgebiet Smog-Alarm ausgelöst wurde. Übrigens zehn Jahre, nachdem der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher die Reinhaltung der Luft neben der Wasserwirtschaft und Lärmbekämpfung organisatorisch in seinem Ressort verankerte, somit erster Umweltminister der BRD wurde.

In beiden Fernsehspielen geht es vordergründig um das jeweilige Phänomen, hier Sensationslust, dort Umweltverschmutzung. Menge thematisierte dabei gleichfalls die Rolle der Medien gewissermaßen auf einer Meta-Ebene. Im Falle des "Millionenspiels" hat er dabei eine Entwicklung vorweggenommen, im Fall von "Smog" mag seine Idee dazu beigetragen haben, das Thema Umweltschutz in die Köpfe der Zuschauer zu pflanzen – oder das Bild eines "grauen Ruhrgebiets" zu reetablieren. Der Strukturwandel der Region weg von der "dreckigen Kohle" war 1973 bereits im Gange und damit auch Bemühungen lokaler Politiker und Unternehmer, das Image des Reviers aufzubessern.

"Eine globale Pandemie später wirken manche Szenen auf ganz andere, nicht minder gruselige Art prophetisch", schrieb das Medienmagazin Übermedien vor einem Jahr, "etwa wenn im Krankenhaus die Sauerstoffgeräte fehlen und Eltern mit kranken Kindern weggeschickt werden, wenn ein Fernsehstudio geräumt wird, um zur Krankenstation umfunktioniert zu werden, oder ein marktschreierischer Verkäufer im Supermarkt Gesichtsbedeckungen zum Schutz der Atemwege anpreist. Die Menschen tragen diese Masken anschließend falsch." Apropos: Verkaufstricks von Supermärkten zeigte Menge 1972 in einer Dokumentation auf, mitsamt einem kurzen Einblick in die Edeka-Rechenzentrale und einem Ausblick auf heute übliche Scannerkassen. Algorithmen heutiger Online-Plattformen könnten sich davon ein paar Scheiben abgeschnitten haben: "Suchen, was wir brauchen, sofort sehen, was wir nicht brauchen."

Auch auf anderen Gebieten gehörte Wolfgang Menge zu den Vorreitern. 1974 war er einer der ersten Talkmaster der Gesprächssendung "3 nach 9", die noch heute Teil des Fernsehprogramms ist. Die von Menge zu der Zeit konzipierte Fernsehserie "Ein Herz und eine Seele" darf als Vorläufer für deutsche Sitcoms gelten. Mit ihr setzte er dem gesamten bundesdeutschen Volk den Spiegel vor, indem er kleinbürgerliche konservative Eltern mit neueren politischen Ideen konfrontierte, die ihre Tochter und dessen Mann bewegte. Mit den Schimpftiraden des "Ekel Alfred" über Willy Brandt und seine Sozen polarisierte Menge das Publikum, und sorgte für hohe Einschaltquoten. So wie in den 1950er- und 1960er-Jahren mit der Krimiserie "Stahlnetz", die seinerzeit als "Straßenfeger" galt.

Wenn sie diesen Begriff lesen, mögen manche Fernsehmacher wehmütig werden. Von Produktionen, die 70 Prozent und mehr des Fernsehvolks gleichzeitig auf einem Kanal vereinen, sind sie heute weit entfernt. Heute ist die Konkurrenz größer, Mediatheken nehmen den Zeitdruck, zudem kann das Publikum jetzt ohne viel Umstand Medienereignisse dortselbst, auf der Straße, verfolgen. Doch nicht nur die Sehgewohnheiten haben sich geändert, auch die Zeigegewohnheiten. Das zeigte sich 2016, als Wolfgang Petersen zum zweiten Mal die Komödie "Vier gegen die Bank" verfilmte und damit einen Stoff, für den 40 Jahre früher Wolfgang Menge das Drehbuch verfasst hatte. Schon 1976 spielte ein Computersystem eine Schlüsselrolle: Der 12y8 sagte voraus, wo der nächste Banküberfall stattfindet. In der Realität führte 1979 erstmals eine computergestützte negative Rasterfahndung zur Verhaftung eines gesuchten RAF-Terroristen.

(anw)