Der Fall Gil Ofarim: Das neue Normal

Gil Ofarim hat eingeräumt, in einem viel verbreiteten Instagram-Video gelogen zu haben. Interessant ist das mediale Echo darauf, meint Andreas Wilkens.

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(Bild: Primakov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.

Heutzutage reicht es, dass ein einigermaßen bekannter Musiker sein Smartphone zückt, um millionenfache Aufmerksamkeit zu provozieren, eine Welle der Empörung loszutreten, ein Hotel in Misskredit zu bringen und nicht zuletzt einen Mitarbeiter dieses Hotels in Gefahr und ihm psychische Probleme. Obendrein lässt sich so einfach noch eine Debatte über bedenkenswerte soziale Entwicklungen in Gang zu setzen. Die Rede ist von Gil Ofarim, der nun vor dem Leipziger Landgericht gestanden hat, am 4. Oktober 2021 in einem Instagram-Video fälschlicherweise behauptet zu haben, von jenem Hotelmitarbeiter antisemitisch beleidigt worden zu sein.

Andreas Wilkens

kommt aus den Kulturwissenschaften, wurde frühzeitig in seinem Studium mit Computern konfrontiert – als Arbeitsmittel und Verdienstmöglichkeit. Er kümmert sich im Newsroom von heise online um die Nachrichten aus der IT-Welt.

Es ist heutzutage normal, dass Menschen ohne großen Aufwand auf einen Schlag ein großes Publikum erreichen können. Das gilt nicht nur für Prominente aus der Kulturindustrie, das gilt potenziell für jeden Menschen, der ein Smartphone und einen Account in einem Social Network besitzt. Das ist gut zu sehen an all den vielen Menschen, die gerne andere influenzen und damit einen Haufen Geld verdienen wollen. Die Technik macht es seit einigen Jahren möglich.

An dem Fall Ofarim zeigt sich nicht das erste Mal, wie schnell und ungefiltert Falschinformationen das Internet durchdringen können. Donald Trump hat sich so zum US-Präsidenten hochgelogen und schon länger versuchen Trollfabriken im Auftrag von Despoten, ihre Desinformationen unter die Menschen zu bringen. Wenn das erste Opfer in einem Krieg die Wahrheit ist, dann befinden wir uns schon seit Jahren in einem Krieg, den um die Deutungshoheit. Die Politik versucht das ihr Mögliche, um dem Einhalt zu gebieten, zum Beispiel auf EU-Ebene mit dem Digital Services Act (DSA).

Ein solches Gesetz wäre im Fall Ofarim reichlich überdimensioniert, da würde eine Kanone auf einen Spatzen gerichtet. Es hätte damals im Oktober 2021 gereicht, wenn er ein paar Mal durchgeatmet und sein Smartphone in der Tasche gelassen hätte und wenn er dann doch noch im Brass gewesen wäre, diesen telefonisch bei einem Freund abgeladen hätte. Ofarim war es aber offensichtlich gewohnt, sich auf Instagram darzustellen und hat anscheinend spontan den Weg gewählt, der ihm am nächsten lag. Damit wird er nicht allein stehen.

Auffällig ist, dass just dieser Aspekt während des Prozesses vor dem Leipziger Landgericht nicht zur Sprache kam – wenn wir den Gerichtsreportern glauben. Auch in den Kommentaren der Medienlandschaft zu dem Prozess taucht er kaum bis gar nicht auf. Die taz spricht davon, dass der politische Schaden groß sei, den Ofarim angerichtet habe. Das Boulevardblatt "Bild" meint, Ofarim sei "erbärmlich", die Illustrierte Focus walzt den Aspekt mit dem politischen Schaden noch weiter aus als die taz, die Süddeutsche Zeitung spricht von einer "weisen Entscheidung" des Gerichts, das Verfahren gegen Zahlung von 10.000 Euro einzustellen, zumal sich Ofarim mit der ganzen Sache selbst geschadet habe.

Einen anderen Dreh fand der Kommentator Lucas Böhme für die Leipziger Zeitung. Er schreibt, der Fall Ofarim sei ein Lehrstück, das weit über den Gerichtssaal hinausweise. "Der Raum für Vorverurteilung und Hass öffnet sich in der heutigen Zeit blitzschnell, vor allem in den sogenannten Social Media, wo gefühlsgeleitete Dynamik die Besonnenheit schnell aussticht." Und weiter schreibt Böhme: "Das gilt nicht weniger auch für uns, die mediale Zunft, wo man, bei aller Konkurrenz und Hektik des Tagesgeschäfts, mehr Mut beweisen könnte: Mut, eine Geschichte von solcher Sprengkraft auch mal etwas später als andere zu bringen, wenn sie dafür ausgewogener daherkommt, ohne nur auf Klicks und Schlagzeilen-Kampf zu schielen."

Was hiermit versucht wurde. Ofarim jedenfalls scheint gelernt zu haben. Er hatte nicht nur bereits das Video gelöscht, das er damals am Bordstein in Leipzig aufnahm. Sein gesamter Account @gilofarim ist nun auf Instagram nicht mehr verfügbar. Konsequent wäre er, wenn er auch seine anderen Social-Media-Accounts löschen würde. Nicht alles, was normal ist, ist auch gut.

(anw)