Kommentar: Die Endemie ist ein falsches Freiheitsversprechen

Endemie ist in der Pandemie das Zauberwort, das Freiheit verheißt. Aber das ist leider ein Missverständnis.

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(Bild: Noah Matteo / Unsplash)

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Ob es wohl daran liegt, dass das Wort "Ende" in endemisch steckt, dass so viele Hoffnungen auf diesem Begriff ruhen? Es heißt immer: Wenn wir nur erst von der pandemischen in die endemische Lage übergehen, dann… Ja, was dann?

Der Begriff "Endemie" geistert durch die virologische und politische Landschaft als Hoffnungsmarker, dabei heißt endemisch überspitzt nichts weiter als: Die Krankheit bleibt in der endemischen Region. Und zwar dauerhaft. Definiert ist die Endemie dadurch, dass die Zahl der Krankheitsfälle in einer Region erhöht, aber etwa konstant ist. Das Kriterium ist dabei nicht, dass nur Wenige leicht erkranken, wie der inflationäre Gebrauch der "endemischen Lage" suggeriert. Das Kriterium ist ein konstantes Niveau von Kranken, das auch durchaus hoch sein kann.

Ein Kommentar von Jo Schilling

Jo Schilling ist TR-Redakteurin. Sie hat nie ganz aufgehört, Naturwissenschaftlerin zu sein und ist überzeugt, dass komplizierte Zusammenhänge meist nur kompliziert sind, weil noch die richtigen Worte für sie fehlen.

Dabei müssen Endemien nicht durch Infektionserreger ausgelöst werden. So war beispielsweise in den europäischen Alpenregionen der Kropf, oder medizinisch Struma, eine Endemie. Jodmangel verursacht häufig die Vergrößerung des Schilddrüsengewebes. Durch das Jodieren von Speisesalz ist die Krankheitshäufigkeit stark gesunken. Die Endemie ist besiegt dank Speisesalz.

Ganz so einfach ist das nicht, wenn es um Infektionserreger geht. Das perfekte Beispiel für eine solche Endemie ist sicher die Malaria: Sie ist räumlich begrenzt durch den Verbreitungsraum der Anopheles-Mücke, die den Malaria-Erreger auf Menschen überträgt. Die Moskitos sind stets präsent, es gibt keine ausgeprägten saisonalen Effekte. Endemisch heißt in diesem Fall allerdings auch, dass in der afrikanischen Subsahara-Region im Jahr 2020 um die 240 Millionen Menschen an Malaria erkrankt und etwa 600.000 daran gestorben sind. Das zeigt sehr deutlich, worüber das Wort endemisch nichts sagt: über die Schwere des Krankheitsverlaufs, über die Zahl der Erkrankten und über die der Toten. Auch die Pocken waren endemisch, Polio ist es nach wie vor. Und niemand wird wohl behaupten wollen, dass diese Krankheiten harmlos sind.

Ein entscheidender Unterschied zwischen Malaria und COVID-19 ist natürlich, dass es für SARS-CoV-2 einen wirksamen und zugelassenen Impfstoff gibt. Dass endemische Zustände durch gute Impfstoffe beendet werden können, zeigen die Pocken und Polio. Zwar ist Polio noch nicht eradiziert, so wie die Pocken, aber das hat eher politische als medizinische Gründe. Aber SARS-CoV-2 ist eben ein anderes Virus. Eines, das sich rasant verändert und so dafür sorgt, dass die Impfstoffe nur eine gewisse Halbwertzeit haben. Das haben die letzten Monate eindrücklich gezeigt. Inzwischen haben laut RKI 53,6 Prozent (Stand bei Redaktionsschluss am 4.2.22) der Deutschen drei Spritzen in den Arm bekommen und können dennoch erkranken. Zwar nicht schwer und sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an COVID-19 sterben, aber sie erkranken.

Gerne wird darauf verwiesen, dass es verschiedene Corona-Viren gebe, die ebenfalls endemisch wären und nur einen ordinären Schnupfen auslösen. Dabei schwingt die Hoffnung mit, dass es mit SARS-CoV-2 ähnlich laufen könnte. Aber diese Corona-Erkältungsviren nehmen auch ohne Impfung keine Leben – zumindest nicht als alleinige Ursache. Sie sind harmlos und kosten uns nichts weiter als ein paar Tage Unwohlsein und unzählige Taschentücher.

Wäre sie denn nun da, die sehnlich erwartete endemische Lage in Deutschland, wäre sie ein fragiler Zustand. Der Clou an einer Pandemie ist, dass die ganze Welt betroffen ist, und ein Virus, das fleißig mutiert, tut das auch, wenn wir die Lage in Deutschland endemisch nennen. Denn auch wenn unsere Impfquoten nur mäßig sind, an anderen Orten der Welt – besonders in Afrika und Teilen Südamerikas – sind sie noch schlechter als bei uns.

Corona-Pandemie: Neue Varianten - Erkrankung - Impfung

Inzwischen ist klar, dass sich SARS-CoV-2 auch in anderen Säugern als Menschen vermehrt – ob die Mutationen, die in Weißwedelhirschen oder Haustieren entstehen, relevant für uns sind: Keiner weiß es. Jedenfalls hat das Virus genügend Möglichkeiten in Tier und Mensch zu mutieren. Tut es das dann zudem noch räumlich oder durch Artgrenzen weitgehend abgekoppelt von uns und bringt stark veränderte Varianten hervor, die nicht zum Immunstatus der Bevölkerung passen – weder zu den Impfstoffen noch zu den durch Viruskontakt antrainierten Immunreaktionen –, explodiert erneut das Infektionsgeschehen. Die Krankenhäuser füllen sich, die Infrastruktur dünnt durch Krankenstände aus, und wenn die neue Variante nicht so vergleichsweise freundlich mit uns umgeht wie derzeit Omikron, werden wieder viele Menschen sterben.

Weshalb durchaus auch Experten von einer Zukunft des SARS-CoV-2 als neuer Erkältung sprechen, es ist mitnichten deren Glaube daran, dass das Virus sich abschwächen wird. Soweit wir wissen, sind Mutationen Zufall und es setzen sich diejenigen Mutationen durch, die dem Virus einen Vorteil verschaffen. Den Vorteil, sich effizient zu verbreiten. Tötet das Virus schnell, entzieht es sich selbst die Existenzgrundlage, denn ein toter Wirt verbreitet keine Viren. Sackgasse. Aber ein langsam über Wochen auf der Intensivstation sterbender Mensch ist durchaus ein guter Wirt. Er hat noch viel Zeit, das Virus unter die Menschen zu bringen.

Zu einer harmlosen Erkrankung, die wir – wenn schon nicht schätzen – doch wenigstens akzeptieren können, kann COVID-19 nur werden, wenn wir stärker werden. Das heißt vor allem eins: geimpft. Und dann am besten noch mild infiziert, um unser Immunsystem auch auf die vom Impfstoff abweichenden Eigenschaften zu trainieren. Das ziehen gerade die Dänen durch. In den Cafés und Clubs findet derzeit ein Omikron-Training für dänische Immunsysteme statt. Aber Endemie-Verhalten können sich die Dänen nur erlauben, weil sie eine beeindruckende Impfquote haben und weil Omikron so vergleichsweise zahm ist.

Wie man es dreht und wendet: Solange wir uns in Deutschland dem Virus nicht aussetzen und wie die Dänen unsere Immunsysteme mit neuen Varianten immer besser trainieren können, weil zu viele ungeimpft sind und eine Durchseuchung das System überlastet – solange ist es eigentlich auch egal, ob eine endemische Lage nun die Erlösung ist, oder nicht. Wir sind ohnehin noch weit davon entfernt.

(jsc)