Kommentar: Im Zweifel vom Worst Case ausgehen
Unsicherheiten in Klimamodellen sind kein Argument, Gegenmaßnahmen hinauszuzögern. Im Gegenteil, meint TR-Redakteur Gregor Honsel.
Wenn Klimaforscher einen Temperaturanstieg von, sagen wir, 1 bis 3 Grad voraussagen, gibt es unter den üblichen Verdächtigen zwei typische Reaktionen. Erstens: "Was denn nun? 1 oder 3 Grad? Die wissen es also selbst nicht so genau. Dann sollen sie halt erst mal weiterforschen." Zweitens: "Es kann also auch nur 1 Grad werden? Was soll dann die Aufregung? Alles halb so wild."
Pech nur, dass es mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eben auch 3 Grad werden können. Es häufen sich die Beispiele, wo genau das passiert ist – wo Projektionen eher noch zu vorsichtig waren. Schon 2011 entdeckten Forschende etwa, dass der Meeresspiegel stärker ansteigt als erwartet. Und kürzlich machte die Physikerin Sabine Hossenfelder darauf aufmerksam, dass einige Klimamodelle einen deutlich stärkeren Temperaturanstieg vorhersagen als der bisherige Konsens.
Extremwerte und unbekannte Effekte
Ein Teil der Erklärung ist pure Statistik. Extremwerte treten zwar weniger wahrscheinlich auf als der Mittelwert, aber manchmal eben doch – und zwar auf beiden Seiten des Spektrums. Noch beunruhigender ist aber, dass es offenbar gewisse Mechanismen gibt, welche die Lage systematisch verschärfen. Den bekanntesten dieser Mechanismen bilden die sogenannten Klima-Kipppunkte, besonders gut zu beobachten am Eis in der Arktis und der Antarktis. Dazu kommen möglicherweise weitere, noch unbekannte Effekte. "Dafür sprechen vor allem Ausmaß und Dauer der [Temperatur-]Anomalie", schreibt Spektrum der Wissenschaft. "Jeder einzelne Monat seit Juni war der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen, teilweise mit bemerkenswertem Abstand."
Daraus folgt: Unsicherheiten in Klimamodellen sind kein Argument, Gegenmaßnahmen hinauszuzögern, bis mehr Klarheit herrscht. Im Gegenteil: Es wäre eine nützliche Arbeitshypothese, im Zweifel vom Worst Case auszugehen. Angenehm überrascht werden kann man dann immer noch.
(grh)