Kommentar zum Fachkräftemangel: Weniger Blabla, mehr Kohle!

Planlose Headhunter, überforderte Firmen und unrealistische Gehaltsvorstellungen: Beim IT-Recruiting läuft meist alles schief, meint Martin Gerhard Loschwitz.

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Von
  • Martin Gerhard Loschwitz
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Mit dem Fachkräftemangel ist es ein bisschen wie mit dem Wetter: Er ist immer da und als generisches Gesprächsthema taugt er ganz hervorragend. In Umfragen gibt das Gros der deutschen Firmen vor, Schlüsselpositionen in absehbarer Zeit vermutlich nicht mehr sinnvoll besetzen zu können. Ohne Unterlass beackern Recruiter für hiesige wie ausländische Firmen die sozialen Netze wie LinkedIn auf der Suche nach geeigneten Kandidaten – und bleiben regelmäßig doch erfolglos.

Ein Kommentar von Martin Gerhard Loschwitz

Martin Gerhard Loschwitz ist freier Journalist und beackert regelmäßig Themen wie OpenStack, Kubernetes und Ceph.

Dabei ist es keineswegs so, dass keine wechselwilligen Leute vorhanden wären. Die Great Resignation läuft schließlich auch hierzulande; reihenweise erwischt es solche Unternehmen besonders heftig, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen und etwa in Sachen Remote Work die Uhren auf die Zeit vor Corona zurückdrehen wollen. Woran liegt es also, dass potenzielle Arbeitgeber und geeignete Bewerber regelmäßig nicht zueinanderfinden?

Die Ursachen erschließen sich flott, wenn man den Recruiting-Markt der Branche etwas genauer unter die Lupe nimmt oder als Arbeitnehmer möglicherweise sogar Teil davon ist. Denn was beim Recruiting in der IT mittlerweile abgeht, lässt sich selbst mit "völliger Wahnsinn" viel zu oft nur unzureichend beschreiben. Regelmäßig kommen etliche Faktoren zusammen und sorgen für Kopfschütteln mit Schleudertraumagefahr.

Los geht es oft schon mit den Recruiterinnen und Recruitern selbst. Zweifellos sind in dieser Branche viele Menschen tätig, die ihren Job gut, gewissenhaft und engagiert machen. Weit häufiger begegnet man allerdings gefühlt Drohnen, also Rekrutierern, die Profile im besten Fall auf wenige Keywords abklopfen und es dann mit Kaltakquise probieren. Netzwerkprofis werden wegen Webdesigner-Stellen angeschrieben, Webdesigner sollen Linux-Server administrieren und wer Ubuntu beherrscht, wird sich wohl auch mit AWS auskennen. Solche Anfragen sind eher die Regel als die Ausnahme: Wer ein gut verfasstes LinkedIn-Profil hat, erhält davon oft mehrere pro Tag.

Nicht weniger nervig sind die Unternehmen, die ihre Stellen über etliche Recruiting-Agenturen gleichzeitig zu besetzen versuchen: Wer in 48 Stunden die vierte Anfrage für eine "DevOps-Stelle bei einem aufstrebenden Berliner Cloud-Unternehmen" erhält, verdreht meist nur noch genervt die Augen.

Kommt doch mal erfolgreich ein Kontakt zustande, betrifft die zweite Eskalationsstufe des Clusterfucks danach all jene Prozesse, die sich findige Personaler in vielen Unternehmen mittlerweile ausgedacht haben. Im Rahmen eines erfolgreichen Recruiting-Erstkontaktes entsteht bei potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern heute regelmäßig der Eindruck, man werde gezielt auf eine Stelle angeworben. Details wie das Wunschgehalt erfragen Recruiter oder spätestens Personalabteilungen heute oft bereits beim ersten ausführlicheren Kontakt.

Wer als angeworbene Person dann aber davon ausgeht, in einem flotten Recruiting-Verfahren zu landen, irrt in der Mehrzahl der Fälle: Stattdessen leiten die Agenturen in vielen Fällen einfach die gesammelten Informationen an die Personalabteilungen der suchenden Firmen weiter, die dann einen ganz regulären Bewerbungsprozess lostreten – genau so, als hätte sich der Kandidat oder die Kandidatin selbst unmittelbar beim Unternehmen beworben.

Die Bewerbungsprozesse selbst ziehen sich im weiteren Verlauf dann meist wie ranziger Strudelteig: Bewerbungsrunde folgt auf Bewerbungsrunde mit kontinuierlich wachsendem Teilnehmerkreis. Von Eile keine Spur: Zwischen zwei Gesprächen verstreichen gern auch mal anderthalb Wochen, weil erst mal alle Teilnehmenden des letzten Interviews ihr Placet geben müssen, bevor ein Termin mit allen Beteiligten der nächsten Runde abgestimmt werden kann. Regelmäßig steht zwischendurch auch noch ein "Assignment" an, bei dem irgendwelche mehr oder minder hirnrissigen Aufgaben zu lösen sind – mit teils erheblichem zeitlichen Aufwand, dafür aber ohne jeden Bezug zur Stelle, wegen der man eigentlich im System ist. Gerade Großkonzerne treiben das Spiel oft gern so weit auf die Spitze, dass es aus zeitlichen Überlegungen heraus praktisch unmöglich ist, mehrere Bewerbungsverfahren parallel zu durchlaufen.

Man verstehe mich nicht falsch: Freilich gibt es unter den Kandidatinnen und Kandidaten Blender, deren CV mit der Realität wenig gemein hat. Und völlig zurecht wollen Unternehmen sich vor solchen Windeiern schützen. Doch wäre es an den Firmen selbst, idealerweise bereits den Personenkreis der ersten Interview-Runde so zu gestalten, dass über entsprechende Fragen im Interview die schwarzen Schafe schnell identifiziert und aussortiert werden können. Wenn alle Stricke reißen, gäbe es darüber hinaus ja auch noch die Probezeit, innerhalb derer ein Arbeitsverhältnis sich problemlos auflösen lässt.

Hat die Bewerberin oder der Bewerber die elendigen Runden der peinlichen Befragung irgendwann überstanden und wird für würdig befunden – statt, wie es häufig vorkommt, einfach geghostet zu werden – folgt vielerorts das nächste dicke Ding: An und für sich, so heißt es dann, sei ja alles wunderbar, doch passe der Gehaltswunsch – der ja meist schon im Erstgespräch thematisiert wird – leider nicht zur Stelle. Von diesem Spiel gibt es zudem etliche Variationen: Alternativ könne man freilich eine andere Stelle anbieten, die dann aber nichts mit der Qualifikation der Kandidaten zu tun hat. Und regelmäßig versuchen Unternehmen, gestandene Kandidatinnen und Kandidaten in Junior-Rollen zu quasseln, um Gehaltswünsche abzubügeln. Dafür gäbe es aber flache Hierarchien, Frühstück in der Firma sowie Vergünstigungen im Fitnessstudio. Wer kann da schon widerstehen?

Offensichtlich einige, wenn man einschlägigen Erfahrungsberichten Glauben schenkt. Erst am Ende zahlloser Bewerbungsrunden stellt sich für Kandidatinnen und Kandidaten demnach oft heraus, dass die Wirklichkeit des Marktes und die eigenen Wünsche und Vorstellungen eines Unternehmens völlig disjunkt sind. In Workshops und Meetings geplant und den Bewerberinnen und Bewerbern präsentiert wird dabei zunächst eine äußerst komplexe technische Lösung, für die Technologie oft erst erfunden oder zumindest neu kombiniert werden muss.

Während des Recruitings stellt sich dann heraus, dass geeignetes Personal für die aufgerufenen Tarife nicht zu bekommen ist. Eingestellt werden schließlich Menschen, deren fachliche Kompetenz zur Schaffung der geforderten Lösung schlicht nicht ausreicht. Wer sich jemals gefragt hat, wieso IT-Projekte der öffentlichen Hand nach etlichen Jahren und vielen versenkten Millionen spektakulär scheitern, findet hier einen Erklärungsansatz. Zurück bleiben oft genug frustrierte Bewerberinnen und Bewerber, die bei gegebener fachlicher Eignung viel Zeit unnötig vergeudet haben, weil die anwerbenden Firmen nur bedingt ehrlich mit ihnen umgegangen sind. Falls man nicht ohnehin zwischendurch abspringt, weil ein anderes Unternehmen nicht so undynamisch ist wie ein seelenloser Stahlbolzen.

Neuerdings spielt ein weiterer Faktor eine immer größer werdende Rolle, nämlich die Generation Z, die langsam in den Arbeitsmarkt hineinwächst. Von Personalern im Boomer-Alter oft völlig zu Unrecht als arbeitsscheu geschmäht, haben diese andere Erwartungen und andere Anforderungen an den Arbeitsmarkt als die vorhergehenden Generationen. Unternehmen werden indes nicht darum herumkommen, auch Vertreter dieser Generation irgendwann einzustellen. Wie das allerdings gehen soll, wenn schon heute völlig unrealistische Vorstellung des Leistbaren und des Marktes in Summe im Raum stehen, steht in den Sternen.

Besonders grotesk ist dabei: Die meisten der Probleme sind hausgemacht und wären mit relativ wenig Aufwand zu beseitigen. Recruiter bieten für ein auftraggebendes Unternehmen nur dann echten Mehrwert, wenn sie die Personalsuche tatsächlich erleichtern. Das umfasst zielgerichtete Suche, Sorgfalt und Hartnäckigkeit. Wer stattdessen nach dem Motto vorgeht, von 1000 angeschriebenen Menschen werde wohl wenigstens einer passen, hat den Beruf verfehlt.

Unternehmen indes müssen sich einen realistischen Blick auf den Markt verschaffen und bei der Abwägung der Machbarkeit technischer Lösungen den Faktor Personalkosten beachten. Wer ein Rennauto bauen möchte, braucht dafür schließlich auch einen speziellen und teuren Motor statt des Standardmodells von der Stange. Darüber hinaus müssen Firmen ihre völlig aus dem Ruder gelaufenen Bewerbungsprozesse wieder unter Kontrolle bekommen, indem sie sie entschlacken, verkürzen und bewerberfreundlich machen. Dann wird ein Schuh daraus – und dann wird es Unternehmen möglich sein, offene Positionen zielgerichtet mit den passenden Leuten zu besetzen. Woran nicht zuletzt die Unternehmen selbst ein Interesse haben sollten – denn ein ausgewachsenes Hiring-Team, das vorrangig heiße Luft produziert, ist auch aus Firmensicht vor allem eines: ein Wahnsinn.

(fo)