Kommentar zum Twitter-Leselimit: Wo Rauch ist, ist vielleicht auch ein Feuer
Twitters Nutzer regen sich gerne auf – und Elon Musk gießt gerne Öl ins Feuer. Vielleicht steckt aber mehr als nur Getöse dahinter, meint Malte Kirchner.
Von Elon Musk lernen, heißt – ohne Häme –, auf Twitter kommunizieren zu lernen. Außerhalb des blauen Vögelchens, etwa bei Profis aus der Kommunikationsbranche, gilt seine Art als No-Go. Aber bei Twitter gelten bekanntlich andere Spielregeln. In der großen Aufregungsmaschine, die wie geölt läuft, wenn viel Stoff für Empörung hineingeworfen wird, hat Musk am Wochenende mal wieder richtig Gas gegeben. Im Gegensatz zu manch anderem Tech-CEO ist Musk nämlich selbst sein bester Kunde. Man kann ihm vieles unterstellen, aber eben keine Unkenntnis darüber, wie der verbale Durchlauferhitzer zum Brodeln gebracht wird.
Durch das klammheimliche Einführen des Leselimits, das am Samstag erst zu unerklärlichen Fehlermeldungen bei Tausenden Nutzern führte, und das Aussperren von Lesern ohne Account hat Twitter schon einmal für die nötige brenzlige Grundstimmung gesorgt. Am Samstagabend goss der Chef höchstselbst Brandbeschleuniger nach: erst mit der Ankündigung, dann mit zwei spontanen Hochsetzungen des Leselimits für Tweets. Gegen Mitternacht war die Twitter-Gemeinde dann endgültig und unversöhnlich polarisiert. Die Flammen loderten hoch. Und auch wenn beim wahren Zweck dieser Aktion manche Frage weiterhin offen bleibt, so ist durch das Leselimit zumindest eines gewiss: Es war auf jeden Fall einer seiner erfolgreichsten PR-Stunts der letzten Zeit, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu erregen.
Mehr als ein Marketing-Gag?
Doch war es das wirklich schon, eine reine Marketingaktion für Twitter Blue? Ist – sprichwörtlich – wo so viel Rauch ist, auch ein Feuer?
Dass es nach PR-Maßstäben darum geht, mehr Nutzer zum Bezahlen zu bewegen, darauf deutet zumindest das gewählte Abstufungsmodell beim Leselimit hin. Egal, welches Rate Limit Twitter am Samstag verkündete: Diejenigen, die ein Abo abschließen, dürfen zehnmal mehr lesen als jene, die nicht zahlen. Musk gibt zwar vor, eine Art Gefahrenabwehr mit dem Leselimit zu betreiben. Aber saugen die Bots nicht in einem viel höheren Maß als jeder Normalnutzer Posts in sich hinein? Würde es nicht genügen, ein höheres Leselimit zu setzen? Eines, an das kein Normalnutzer so schnell stößt, das aber Bots effektiv ausbremst?
Beide, Zahler und Nicht-Zahler, werden wohlgemerkt zusätzlich mit Werbung bespielt, die – zumindest dem subjektiven Empfinden nach – in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich zugenommen hat. Inwieweit die Werbekunden das Leselimit lustig finden, ist eine von vielen Anschlussfragen. Zumindest die Ankündigung Musks, dass es nur vorübergehend gilt, sollte sie vorerst milde stimmen. Allzu lange dürfte das Netzwerk, dessen Beiträge gelesen werden wollen, das aber ohnehin nicht aushalten.
Gute Gründe für das Leselimit
Es gibt aber auch Stimmen, die hinter Twitters Leselimit einen ernsten Hintergrund vermuten.
Einen der besten Erklärungsversuche liefert ein Architekt für IT-Cloud-Lösungen, der sich hinter dem Pseudonym "The Sicilian Irish Robot" verbirgt. Er argumentiert, dass staatliche und andere Akteure massiv Daten aus sozialen Netzwerken abrufen, um etwa anonyme Poster zu demaskieren und zu verfolgen. Auch sorge das Abgreifen der Daten – und sei es, wie von Musk beklagt, für das Trainieren von Large Language Models – für massiven Traffic beim Anbieter und damit für erhebliche Kosten. Zahlmodelle wie Twitter Blue verlagern zumindest einen Teil der Kosten auf diejenigen, die die Daten abgreifen oder hindern sie im besten Falle an ihrem Tun. Das verbessere das Netzwerk qualitativ, senke den Bedarf an Werbung zur Refinanzierung und gewährleiste überhaupt den Fortbestand Twitters.
Dass Geld eine entscheidende Rolle spielen könnte, wird durch Medienberichte genährt, denen zufolge Twitter seine Rechnungen für Google-Cloudserver und Amazon Web Services (AWS) nicht bezahlt hat. Musk und Twitter erwehren sich also womöglich wirklich eines Problems, von dem sie selbst keinen Nutzen haben, andere – etwa die Anbieter generativer Künstlicher Intelligenzen (KI) – aber umso mehr. Es wäre also mehr als verständlich, dass ein guter Geschäftsmann dafür entlohnt werden möchte oder halt die Scraper vor die Tür stellt. Und dass Twitter unter enormem Kostendruck steht, ist nicht erst seit dem Wochenende Gewissheit.
Warum? Weil er es kann!
Doch warum er die vermeintlich guten Gründe so schlecht vermittelt, bleibt das Geheimnis von Elon Musk. Vielleicht lautet die Antwort darauf aber auch schlicht und einfach: Weil er es kann. Die Abwanderungen zu Mastodon und anderen Alternativen reduzieren sich auch nach Dutzenden Aufregern bei Twitter auf ein im Vergleich zum Musk-Netzwerk homöopathisches Maß. Und nirgendwo funktioniert die Empörungsmaschine so gut wie bei Twitter. Das wurde am Wochenende wieder einmal unter Beweis gestellt.
(mki)