Mangel an Fortbildung: Warum die Kulturlosen keine Chance haben

In der Softwarebranche mangelt es an Fortbildungskultur. Was viele meinen, locker aussitzen zu können, ist eine Zeitbombe für Firmen, kommentiert Rainer Grimm.

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(Bild: Sashkin/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Rainer Grimm
Inhaltsverzeichnis

Es ist eine Katastrophe mit Ansage: In der Softwarebranche herrscht ein erheblicher Mangel an Fortbildungskultur. Als wäre das nicht schlimm genug, kommt noch hinzu, dass die Nachfrage nach qualitativ hochwertiger Software und die Komplexität der Software in naher Zukunft drastisch steigen wird. Die Probleme sind buchstäblich vorprogrammiert.

Rainer Grimm

Rainer Grimm ist seit vielen Jahren als Softwarearchitekt, Team- und Schulungsleiter tätig. Er schreibt gerne Artikel zu den Programmiersprachen C++, Python und Haskell, spricht aber auch gerne und häufig auf Fachkonferenzen. Auf seinem Blog Modernes C++ beschäftigt er sich intensiv mit seiner Leidenschaft C++. Seine Bücher zu C++ sind in mehreren Sprachen veröffentlicht worden. Seit 2016 steht er auf selbstständigen Beinen. Insbesondere das Vermitteln von Wissen zu modernem C++ ist ihm eine Herzensangelegenheit.

Der signifikante Mangel an Fortbildungskultur, der im folgenden in vier Punkten beschrieben wird, bezieht sich in diesem Text alleine auf die Softwareindustrie. Er lässt sich aber leicht auf die gesamte Industrie verallgemeinern, da Software immer mehr zum Wertetreiber unserer Wirtschaft wird. Und er betrifft sowohl den Arbeitgeber als auch den Arbeitnehmer:

Lernen muss ein fester Bestandteil der täglichen Routine sein. Die Softwarebranche ist sehr komplex und dynamisch. Daher muss die Frage immer wieder aufs Neue beantwortet werden: Verwende ich die richtige Technik? Sich diese Fragen zu stellen, erfordert eine offene Kultur.

Diese Fortbildungskultur ist dadurch gekennzeichnet, dass sie Fortbildung begrüßt und unterstützt. Sie betrachtet Weiterbildung nicht als Kostenfaktor, sondern als eine Investition in die eigene und die Zukunft des Unternehmens. Die Verantwortung liegt auf zwei Schultern: die des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers.

Zunächst einmal muss der Arbeitgeber die Ausbildung und die Fortbildungskultur als ein wertvolles Gut betrachten. Die Beschäftigten sind das wichtigste Kapital des Arbeitgebers und ein Garant seines anhaltenden Geschäftserfolgs. Es gibt viele Möglichkeiten, wie ein Arbeitgeber seine Mitarbeiter unterstützen kann. Dazu zählen:

  • Frei zugängliche Lernmaterialien wie Bücher, Zeitschriften oder Abonnements von Lernplattformen
  • Ausbildungsprogramme wie Mentoring, Schulungen oder regelmäßig stattfindende interne Fortbildungsrunden
  • Teilnahme an Konferenzen und Messen
  • Vorträge innerhalb und außerhalb der Firma auf Konferenzen

Aber auch der Arbeitnehmer ist in der Verantwortung. Zunächst muss er gegebenenfalls seinen Arbeitgeber davon überzeugen, dass der Aufbau einer Fortbildungskultur in seinem Unternehmen eine Investition mit einer sehr hohen Dividende ist. Diese Überzeugung ist notwendig, weil Menschen, die nicht mit Software zu tun haben, die systemische Herausforderung von Software oft nicht richtig einschätzen können. Darüber hinaus kennt er die Kultur und die Herausforderungen des Unternehmens perfekt.

Wenn sich keine Fortbildungskultur in dem Unternehmen etabliert, wird dies sehr negative Konsequenzen haben. Mittelfristig werden die guten und herausragenden Softwareentwickler das Unternehmen verlassen, weil sie ein Umfeld suchen, in dem sie sich verbessern können. Sie sind begierig, zu lernen. Nur die schlechten Programmierer bleiben, weil sie keinen neuen Arbeitgeber finden und sich ihre Motivation hauptsächlich auf einen sicheren Arbeitsplatz beschränkt. Dieser Effekt wird dadurch noch verstärkt, dass hervorragende Softwareentwickler nur mit hervorragenden Softwareentwicklern zusammenarbeiten wollen.

Langfristig hat ein Unternehmen ohne Fortbildungskultur irgendwann nur noch schlechte Softwareentwickler. Diese können maximal noch Legacysoftware pflegen, aber keine neuen Produkte mehr auf den Markt bringen. Letztendlich kann das Produkt aber nicht mehr entscheidend verbessert werden, sodass Darwin auf lang oder kurz zuschlägt.

Es dauert in der Regel drei Jahre, bis eine fehlende Fortbildungskultur dazu führt, dass eine Firma nur noch schlechte Softwareentwicklern beschäftigt. Ich habe diesen Prozess leider schon mehrmals miterlebt.

Arbeitgeber müssen das Lernen ihrer Mitarbeiter unterstützen. Wenn nicht, setzt folgender fataler Automatismus ein:

Ein Softwareentwickler tut das, was er liebt, und ist begierig darauf, neue Techniken und Programmiersprachen zu lernen, um seine täglichen Herausforderungen zu meistern. Seine Herausforderungen sind sehr hoch. Diese betreffen zum Beispiel das Design der Software und deren Sicherheitsarchitektur, die sichere Kommunikation zwischen den Komponenten über Computergrenzen oder Multithreading mit seiner immanenten Komplexität. Das bedeutet, dass er gleichzeitig alte Software warten und verbessern und brandneue Produkte implementieren muss. Oft sind seine Projekte "bleeding edge" und erfordern sein volles Potenzial. Software ist seine Leidenschaft.

Seine Leidenschaft ist so groß, dass er einen großen Teil seiner Freizeit in seine Weiterbildung investieren muss. Alle zwei Jahre muss er seine Lösungsstrategien hinterfragen. Er muss die richtigen Techniken kennen und anwenden, um die beste und eleganteste Lösung zu finden. Diese Herausforderung wird aber zu groß, wenn sein Arbeitgeber ihn nicht unterstützt und das Lernen nur auf seinen Schultern lastet.

Wenn der Softwareentwickler nicht mit dem aktuellen Stand der Programmierkunst mithalten kann, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Er investiert mehr Zeit und Mühe in seiner Freizeit, um die immer größer werdenden Wissenslücken zu füllen. Oder er sucht sich einen neuen Arbeitgeber, der seine Leidenschaft unterstützt und Zeit und Geld in seine Weiterbildung investiert.

Motivierte und gute Programmierer haben am Markt viele Möglichkeiten. Und sie nützen Unternehmen, die Zeit und Geld in das Lernen investieren, immens: Nach ein paar Jahren ist er nicht mehr ein guter, sondern ein exzellenter Softwareentwickler. Jetzt fährt das neue Unternehmen den Ertrag ein: Exzellente Programmierer geben ihr Wissen als Mentor weiter, sie sorgen für einen guten Ruf des Unternehmens und werden zu einem Magneten für außergewöhnliche Programmierer.

Ein Arbeitgeber sollte seine Einstellungen aufgrund der Motivation seiner zukünftigen Arbeitnehmer treffen. Ansonsten droht ein fataler Automatismus.

Meine Erfahrung ist: Die Bereitschaft der Beschäftigten, neue Techniken zu lernen und sich zu verbessern, hängt oft nicht von ihrem Ausbildungsstand ab. Oft sind es genau die Experten, die die falsche Einstellung besitzen und den Lebensabschnitt "Lernen" abgeschlossen haben. Das bedeutet, viel Geld ist in die falschen Leute und Ziele investiert worden.

Oft sind Experten stolz auf ihren Expertenstatus. Sie wollen sich nicht wie Lehrlinge fühlen. Und sie halten sich bereits für die Besten. Das Ziel eines Unternehmens muss deshalb sein, nicht die Besten einzustellen, sondern ein Umfeld schaffen, in dem die Mitarbeiter die Besten werden können. Einige Unternehmen haben diese veränderte Denkweise bereits angenommen. Sie suchen nicht nach den besten Softwareexperten – die es eh nicht mehr gibt –, sondern nach engagierten Mitarbeitern und etablieren ein Fortbildungsprogramm.

Fachwissen in der Softwarebranche hat eine Halbwertzeit von zwei Jahren. Unternehmen sollten deshalb mit Zeit und Geld ein Umfeld schaffen, in dem Fortbildung ein fester Bestandteil der Arbeitszeit der Mitarbeiter ist. Dieses "Training on the Job" ist weitaus wirkungsvoller und nachhaltiger, als nur die Besten für viel Geld zu suchen und einzustellen.

Lernen ist wie ein Sport. Zuerst müssen die Grundlagen erlernt werden. Dazu gehören Techniken und persönliche Strategien, wie man lernt. Dann müssen Übungen täglich angewandt werden, um die Lernfähigkeit aufrechterhalten. Auch wenn der erste Teil der Lernreise in Schule, Universität und als Neueinsteiger im Job gut gemeistert wurde, beginnt als Berufstätiger die zweite Phase der Lernreise. Sie erfordert tägliches Üben.

Der Senior Professional denkt vielleicht, dass tägliches Lernen nicht mehr notwendig ist. Umso härter trifft es ihn, wenn plötzlich grundlegend neue Herausforderungen auftauchen. Das kann eine neue Programmierdomäne, eine neue Technik, eine andere Programmiersprache oder sogar ein neues Programmierparadigma sein. Jetzt ist es an der Zeit, wieder ganz von vorn anzufangen und zu lernen.

Durch die fehlende tägliche Praxis verlernen viele das Lernen. Zumindest ist es keine Selbstverständlichkeit mehr. Und ehe man sich versieht, kann es zu spät für einen sein.

Ich wurde einst beauftragt, den Entwicklungsprozess eines Softwareteams zu verändern. Ziel war ein Wechsel von kontrollbasierter Führung, die auf abzuarbeitenden Aufträgen basierte, hin zu vertrauensbasierter Führung. Naiv dachte ich, dass sich dadurch das volle Potenzial des Teams entfalten würde. Ich lag falsch. Das Team hatte mindestens drei Jahre lang in einer kontrollbasierten Struktur gearbeitet. Sie lernten in den letzten Jahren nur noch, Befehle umzusetzen, die sie von ihren Vorgesetzten bekamen. Das Ergebnis war Stillstand. Die Mitglieder des Teams haben es verlernt, sich selbst zu organisieren. Diese Geschichte gilt für das Lernen im Allgemeinen: Wenn die Übung fehlt, muss das Lernen neu gelernt werden.

Tägliches Lernen muss ein fester Bestandteil der Arbeitskultur werden. Lernen ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Es ist der entscheidende Faktor unseres Erfolgs. Ob eine tägliche Lerndosis von einer Stunde oder ein wöchentlich Lerndosis von acht Stunden: Der goldene Mittelweg hängt von der Domäne und dem Ausbildungsstand der Mitarbeiter ab. Wir müssen noch viel lernen.

(mki)