Sabotage an Nord Stream: Das ewige Brodeln

Die Zerstörung von Nord Stream kam schnell ans Licht. Wer die Gaspipeline zerstört hat, liegt dagegen selbst nach Monaten im Dunkeln. Ein unhaltbarer Zustand.

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(Bild: Schwedische Küstenwache)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Egal, ob die Aussagen des Journalisten Seymour Hersh richtig oder falsch sind – der bekannte Investigativreporter offenbarte mit seinem im eigenen Blog veröffentlichten Artikel zumindest eines: dass sich nämlich weiterhin viele Menschen sehr danach sehnen, endlich mal zu erfahren, was sich am Boden der Ostsee im September 2022 zugetragen hat.

Ein Kommentar von Malte Kirchner

Malte Kirchner ist seit 2022 Redakteur bei heise online. Neben der Technik selbst beschäftigt ihn die Frage, wie diese die Gesellschaft verändert. Sein besonderes Augenmerk gilt Neuigkeiten aus dem Hause Apple. Daneben befasst er sich mit Entwicklung und Podcasten.

Nicht mehr lange, dann liegt die Zerstörung der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 1 und eines Stranges der Pipeline Nord Stream 2 ein halbes Jahr zurück. Doch so schnell, wie das heraussprudelnde Methan an der Meeresoberfläche von der Zerstörung in rund 70 Metern Tiefe kündete, ist die Aufklärungsarbeit leider nicht. Bei weitem nicht. Bis auf das Offensichtlichste, dass da jemand vermutlich militärisch genutzten Sprengstoff zur Detonation gebracht hat und der Schaden immens ist, weiß die Öffentlichkeit bis heute nichts über den Hergang. Dabei ermitteln Dänemark, Schweden und Deutschland getrennt voneinander und haben den Tatort jeweils im Alleingang in Augenschein genommen. Es hat die Ursachenforschung nicht nach vorn gebracht.

Und hier kommt Hersh ins Spiel, der eine Geschichte in die Welt gesetzt hat, die so wie das klingt, was sich einige vor ihm schon an Stammtischen und in Foren zusammenfabuliert haben. Hersh bezichtigt die USA der Sabotage. Zusammen mit Norwegen hätten Spezialkräfte erst im Sommer 2022 Sprengladungen angebracht, die dann im September mittels einer abgeworfenen Signalboje zur Detonation gebracht wurden. Eine einzige anonyme Quelle und allerlei Ungereimtheiten lassen Zweifel aufkommen, ob der einst verdienstvolle Enthüllungsjournalist wirklich den großen Scoop gefunden hat. Am Ende seines Artikels, den keine große Publikation haben wollte, bleibt das Gefühl: Ja, es könnte so gewesen sein. Es könnte sich aber auch komplett anders zugetragen haben.

Fest steht: Wenn die Zerstörung von Nord Stream dazu diente, die Menschen in Europa zu verunsichern, dann ist der Plan auf jeden Fall aufgegangen. Vorher schreckten die durch Frieden verwöhnten Europäer mit Blick auf ihre kritische Infrastruktur einzig technische Probleme und Unfälle. Die auch infolge der Nord-Stream-Zerstörung gestiegenen Gaspreise tragen den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine gefühlt in jeden Haushalt. Monate später stellt sich zudem die Frage, was schwerer wiegt: Dass diesen Anschlag auf unsere Gasversorgung keiner verhindern konnte. Oder das offensichtliche Unvermögen, selbst Monate später Täter und Ablauf benennen zu können.

Die These einiger Verschwörungstheoretiker, dass Staaten wie Dänemark und Schweden der Öffentlichkeit bewusst vorenthalten, wer die Bomben gezündet hat, gründet ja noch geradezu auf einer positiven Annahme, dass nämlich die europäischen Staaten alles im Griff haben und bestens im Bilde über alle Geschehnisse sind. Wer als vertrauensvoller Bürger den offiziellen Aussagen traut, ergibt sich dagegen der Ohnmacht, dass morgen schon der nächste, vielleicht folgenreichere Anschlag auf unseren Alltag möglich wäre. Wer oder was gibt den Menschen nach Nord Stream die Gewissheit, dass das zu verhindern ist?

Somit brennen sich die Bilder dieser hundert Meter Durchmesser zählenden Methanstrudel zunehmend in einer Weise in das kollektive Gedächtnis ein, wie es zuvor andere katastrophale Ereignisse taten. Die Bilder strahlen Hilflosigkeit und Verletzlichkeit der Getroffenen aus. Wenn Russland dahintersteckt, wäre der Ort des Geschehens, dicht vor der dänischen Insel Bornholm, gut gewählt, weil eine Detonation der Leitung bei Russland gefühlt weit weg gewesen wäre. So ereignete sie sich direkt vor der Haustür. Dennoch erweckt Europa den Eindruck, als wolle es diese Rohre am Ostseeboden einfach durch Bilder von LNG-Terminals und Schweigen vergessen machen.

Russland, das die USA und Großbritannien der Täterschaft bezichtigt, kann mit dem jetzigen Zustand recht gut leben: Die Gasgeschäfte über die Leitung nach Deutschland wurden im Zuge eines Pokerspiels eh beendet und die Zerstörung hat schonungslos offensichtlich tiefe Ressentiments und Misstrauen in Europa gegenüber den USA offengelegt. Da mögen die Argumente, dass die USA sich nur damit schaden könnten, wenn sie die Täter sind, noch so einleuchtend wirken – dass sie die Skeptischen zum Überdenken ihrer Haltung bewegen, kann man nicht behaupten. Hätte Russland seine eigene Pipeline gesprengt, wäre neben der Machtdemonstration auch die Zersetzung der europäischen Gesellschaft ein erreichtes Ziel.

(Bild: Nord Stream AG)

Umgekehrt haben natürlich auch die USA den Verschwörungstheorien tüchtig Nahrung gegeben. Dass den Europäern und speziell den Deutschen öffentlich gesagt wurde, dass man Nord Stream zu einem Ende bringen werde, war vieles – aber keine partnerschaftliche Geste auf Augenhöhe. Wie soll man einem so bevormundenden Partner in einer Situation wie jetzt bedingungslos vertrauen? Und dass die USA einer der Hauptprofiteure des nun gewachsenen LNG-Dursts Europas sind, ist zwar ein normaler wirtschaftlicher Vorgang, der Glaubwürdigkeit der US-Amerikaner aber ebenfalls nicht gerade zuträglich.

Manch einer scheint allerdings vergessen zu haben, dass Nord Stream auch intakt zunehmend wertlos wurde, weil Russlands willkürliches Drehen am Gashahn im Sommer 2022 das einstige Vertrauen in den Handelspartner im Osten schon vorher gestört, wenn nicht sogar gänzlich zerstört hat. Die vermeintlich höhere Gewalt durch die Sabotage entbindet Russland für den Moment von Entschädigungsforderungen und richtet den Fokus auf die Staaten, die jetzt mit dieser Situation umgehen müssen.

Auch Monate nach der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines brodelt es unter der Oberfläche. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Anstatt des Gases ist es jetzt aber ein Strom der Ungewissheit, der nicht versiegt, und der am Zusammenhalt der westlichen Staaten nagt. Vor allem gibt es nicht einmal eine Perspektive, ob und wann mit weiteren Erkenntnissen zu rechnen ist. Es ist schlichtweg ein unhaltbarer Zustand.

(mki)