"The Line": Das absurdeste Bauprojekt aller Zeiten

In Saudi-Arabien entsteht eine Stadt von größenwahnsinnigen Ausmaßen. Ebenso wahnwitzig sind die Visionen, die dahinter stehen.

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Rendering der Mega-Stadt "The Line". Was als kĂĽnstliches Paradies mitten in der WĂĽste verkauft wird, dĂĽrfte schnell zur Dystopie werden.

(Bild: Neom)

Lesezeit: 5 Min.

Am Roten Meer baut Saudi-Arabien gerade mit internationalen Investoren eine Stadt für 9 Millionen Einwohner, die nur aus einem einzigen Gebäude besteht: "The Line", 500 Meter hoch, 200 Meter breit und 170 Kilometer lang. Das entspricht ungefähr der Strecke von Köln bis Frankfurt. Rund ein Fünftel davon sei bereits fertiggestellt, gaben die Saudis im Februar bekannt. Daneben planen sie noch weitere Musterstädte, zusammengefasst unter dem Titel "Neom". Und in der Hauptstadt Riad soll gar ein 400 mal 400 Meter großer hohler Würfel namens Mukaab entstehen, der im Inneren einen Turm beherbergt.

Ein Kommentar von Gregor Honsel

Gregor Honsel ist seit 2006 Redakteur bei Technology Review. Er glaubt, dass viele komplexe Probleme einfache, leicht verständliche, aber falsche Lösungen haben.

Neu sind solche Bestrebungen nicht: Gigantismus hat es totalitären Regimes schon immer angetan. Die Nazis etwa bauten auf Rügen in den 1930er-Jahren den längsten Gebäudekomplex der Welt – das viereinhalb Kilometer lange Ferienwohnheim Prora. Für Berlin fantasierten Adolf Hitler und sein Hofarchitekt Albert Speer gar von einer mehr als 300 Meter hohen Kuppel. Sie hätte das derzeit höchste Bürogebäude der EU, den Commerzbank-Tower in Frankfurt, locker überspannen können. Unter ihrem Dach hätten sich wahrscheinlich sogar Regenwolken gebildet. Saudi-Arabien macht es nun noch mehrere Nummern größer.

Selten haben Bauherren ihren Machbarkeitswahn so unverhohlen von der Leine gelassen wie in Saudi-Arabien. Schon allein die Länge von The Line ist städtebaulich der größte anzunehmende Unfug. Zwar heißt es auf der deutschsprachigen Projekt-Webseite: "Die Bewohner haben Zugang zu allen Einrichtungen innerhalb von fünf Minuten zu Fuß, zusätzlich zum Hochgeschwindigkeitszug – mit einer direkten Verbindung innerhalb von 20 Minuten." Doch diesen Hightech-Zug könnte man sich sparen, wenn man die Stadt von vornherein kompakter anlegen würde. Technik löst hier ein Problem, das man mit einer vernünftigeren Konzeption gar nicht erst hätte.

Der Gipfel der technischen Hybris: In einer notorisch trockenen Bergregion wollen die Saudis einen Wintersportort namens Trojena errichten. 2029 sollen hier die asiatischen Winterspiele stattfinden. Die Stadt basiere auf den "Prinzipien des Ökotourismus" und unterstreiche "unsere Bemühungen um den Erhalt der Natur und die Verbesserung der Lebensqualität der Gemeinschaft", heißt es auf der deutschsprachigen Webseite. Welch ein Geschwurbel. Wer sich wirklich um die Natur sorgt, sollte sie einfach in Ruhe lassen. Doch die Saudis glauben offenbar, dass sich jedes beliebige Problem lösen lässt, wenn man nur genug Geld darauf wirft.

Ähnlich durchsichtig sind auch die Versprechungen, The Line werde zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt. Selbst, wenn die Macher es schaffen sollten, die für Klimatisierung und Meerwasserentsalzung nötigen Solarparks von der Fläche eines mittelgroßen europäischen Landes aufzustellen (denn die wären dafür rein rechnerisch nötig): Das Projekt bleibt doch eine gewaltige Verschwendung von Ressourcen, allein schon durch den ganzen CO2-intensiven Beton. "Die Idee von einem rundum ökologischen Neo-Babylon wird hier praktisch mit jedem Aspekt in den Sand gesetzt", schreibt die Süddeutsche Zeitung und bezeichnet das Ganze als "absurdestes Bauprojekt der Welt".

Satellitenbilder des Mega-Bauprojekts "The Line" (7 Bilder)

Im gelb markierten Bereich von "The Line" sind zahlreiche Bagger zu sehen (rote Punkte), die Erde in die lila markierten Bereiche transportieren. Blaue Punkte, die Baufahrzeuge darstellen, sind ĂĽberall auf der Basis fĂĽr die Bauarbeiter zu sehen. Solarzellenfelder sind grĂĽn schattiert.
(Bild: SOAR)

Ebenso absurd klingen die Versprechungen der Werbekampagne. "The Line ist eine zivilisatorische Revolution, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und ein noch nie dagewesenes urbanes Wohnerlebnis bietet, während die umliegende Natur erhalten bleibt", heißt es auf der Webseite, die vor allem um Investoren buhlt. "Sie setzt neue Maßstäbe in der Stadtentwicklung und zeigt, wie die Städte der Zukunft aussehen sollten." Und Mohammed bin Salman, saudischer Kronprinz und Verwaltungsratschef der Neom Company, wird zitiert mit den Worten: "The Line wird sich den Herausforderungen stellen, vor denen die Menschheit heute im urbanen Leben steht, und ein Licht auf alternative Lebensweisen werfen. Wir können die Lebens- und Umweltkrisen, mit denen die Städte unserer Welt konfrontiert sind, nicht ignorieren, und Neom ist führend bei der Bereitstellung neuer und kreativer Lösungen."

Ob sich diese "alternativen Lebensweisen" wohl auch auf Menschen beziehen, die andere Ansichten haben als das saudische Königshaus? Lassen wir uns überraschen. Mohammed bin Salman ist übrigens genau der Mann, der mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Mord am Journalisten Jamal Khashoggi verantwortlich ist.

Für die lokale Bevölkerung gilt das Versprechen schon einmal nicht. Auf einem Teil des Geländes lebte das Volk der Huwaitat, das vertrieben wurde, um Platz für The Line zu schaffen. Eine Person, die gegen ihre Vertreibung protestierte, soll von saudischen Sicherheitskräften erschossen worden sein, drei weitere wurden kürzlich zum Tode verurteilt.

Nicht nur die schiere Dimension von The Line hat faschistoide Züge. Auch die Vision von einem Gebäude als Wohnmaschine, die Bewohner von vorne bis hinten umsorgt, hat ähnliche ideologische Wurzeln – Gleichmacherei und Kontrolle. The Line ist nicht nur eine Machtdemonstration, sondern auch ein Mittel der Machtausübung. So sollen alle erdenkliche Daten gesammelt werden, auch von Smartphones, Wohnungen und Gesichtserkennungskameras. Diese Daten sollen laut Webseite "das Leben durch personalisierte, prädiktive und autonome Dienstleistungen verbessern" und diese den "Bedürfnissen jedes Nutzers anpassen". Was wie ein Versprechen klingt, lässt sich durchaus auch als Drohung lesen: Die gleichen Daten lassen sich nämlich auch hervorragend nutzen, um das Verhalten der Nutzer den Bedürfnissen der Obrigkeit anzupassen.

(grh)