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Was war. Was wird.

Sektkorken knallen, und doch ist mancher auf der Suche nach seiner Identität. Realitätsverschiebungen führen nicht immer nach Kuba, befürchtet Hal Faber, dafür leidet die Meinungsfreiheit.

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Es ist natürlich nicht pc, aber ich beginne heute mit einem Blick auf Montag. Dann gibt es eine Anhörung im Bundestag, die sich mit dem Pressefusionsgesetz beschäftigt, welches den Abschied von der Vielfalt einläutet, wobei diese Vielfalt seit Jahren am Schrumpfen ist. Die bunte Presselandschaft, in der die SPD einstmals mehr als 200 Tageszeitungen besaß, wird öder und öder und nun noch öderer. Die Tageszeitung stirbt und es gibt nicht wenige Freunde des Heiseforums, die da meinen, auf Texte verzichten zu können, die auf totem Baum einherkommen. Doch nehmen wir nur diesen großartigen Artikel über Amerikas Krieg gegen die Menschenrechte in Guantánamo Bay. Zwar kommt das entsprechende Buch schon nächste Woche in den Handel, doch die ERF genannten Qualen, mit denen in Gitmo Menschen gebrochen werden, müssen in der "ich habe von nichts gewusst"-Gesellschaft öffentlich gemacht werden, auch im Internet. Denn nur dann wird das ganze Ausmaß der Dummheit und Borniertheit eines Münchener Rechtsanwalts deutlich, der die Inhaftierung seines Kanzleikollegens mit den Methoden in Guantánamo Bay vergleicht. Eine Aussage, die nur mit einer Portion Realitätsverschiebung getroffen werden kann.

*** Nun hat die Nachricht von der Durchsuchung des Syndikus' seiner Kanzlei und der Verhaftung des Anwalts im täglichen Einerlei der Nachrichten um Service Packs und Patches, von Aufkäufen und Insolvenzen für Ansturm gesorgt, zumal nicht nur der Anwalt, sondern auch die Nutzer des fragwürdigen Angebotes mit Strafverfahren weit weg von Guantánamo rechnen müssen. Bei all der sektkorkenknallenden Fröhlichkeit geht jedoch eines unter: All die schönen Diskussionen, all das Philosophieren um einen neuen Zugang zum Urheberrecht, um Kulturflatrates und um das geistige Eigentum, das Künstler für die Bereicherung der Welt beitragen, sind vergessen, wenn die Gier nach dem neusten Film, nach dem kostenlosen Musikdownload wieder überhand nimmt. Ach, scheiß drauf: her mit dem Stoff -- Mitnahme-Mentalität, meinte ein gewisser Gerhard S.? Oh ja, sie scheint bei fanatisierten Netizens, übriggebliebenen Bobos, neuen Yuppies und ähnlichen Figuren einer vermeintlich gehobenen Mittelschicht jederzeit zu finden zu sein. Stolz blickt man auf hohes Einkommen und die neuesten Tricks fürs Saugen -- und den Aldi-Einkauf hält man immer noch für Kult. Geiz ist geil, dafür fährt man dann auch mal mit dem A8 zum Aldi oder saugt per 3K-DSL-Flatrate gigabyteweise von Warez-Servern. Hinterher ist das Erstaunen groß: Plötzlich gibt es nur noch Matschtomaten, gepanschten Rotwein, Christina Aguilera, Alexander und den großen TV-Roman, weil die Lieferanten angesichts des Drucks auf Produzenten und Künstler nur noch Mist für Läden und Netz anschleppen. Reichts langsam? Weit gefehlt: Dazu kommt noch die Rache von Eminem, und sie soll furchtbar sein. Drei Jahre Haft, donnert die Computerbild und bauscht und plustert auf, was sich im Detail wie immer etwas mühsamer, aber auch etwas deutlicher liest. Ja, muss man die Freiherrliche Obsession für Gunatánamo Bay mit ausufernder Bild-Lektüre erklären? Ist der Realitätsverlust auf allen Seiten wirklich nicht mehr zu überwinden?

*** Es schreibt sich einfach, ist aber so: Wer Pressevielfalt will, muss auch eine Bild ertragen können, ohne Springer zu enteignen. Offline wie Online nimmt die Presse einen wichtigen Auftrag ernst und wie es gestern, vor 153 Jahren, in der ersten Ausgabe der New York Times (sie startete als The New York Daily Times) hieß: "We do not believe that everything in society is either exactly right, or exactly wrong." Mit dem Nachsatz: "What is good we desire to preserve, and what is evil, to exterminate, or reform." Es ist auch kein sonderlich rundes Datum, passt aber in diesen wochenbeschaulichen Zusammenhang: Heute vor 9 Jahren veröffentlichten die genamste New York Times und die Washington Post das Manifest des Unabombers und bezogen für diesen "Kniefall vor dem Terrorismus" kräftige Schelte. Doch durch den Abdruck konnte David Kaczynski eine Sprache lesen, die ihm bekannt war. Während die Kommentatoren schäumten, dass jeder Irre nun seinen Stuss in der Presse veröffentlichen könne, wurde Ted Kaczynski verhaftet. Später stellte sich heraus, dass er an einem CIA-Experiment beteiligt war, die Widerstandskraft von Menschen zu brechen.

*** Bei allem Schulterklopfen muss ein Neuling in der Presselandschaft erwähnt werden, der in Frankfurt Premiere hatte, aber -- nimmt man die Domain-Eintragungen zum Maßstab -- bald in vielen deutschen Großstädten das Leben bereichert. News, die Tageszeitung für die iPod-Generation hatte Premiere. In Frankfurt wird es kaum gelesen, nur in Klein-Bloggersdorf ging es hoch her, weil News die Seite 13 für Blogs und andere Bielefeldereien geöffnet hat. So hoch schwappten die Wogen um die Rechtschaffenheit des ungefragten Zitierens, dass ein als Journalist getarntes Weinfass vor Ärger überlief und nomes de plume ausschüttete, sein Kontrahent mit Löschungen drohte. Die seltsamen Blogger haben freilich auch richtige Antworten parat, wie das schöne Wort ::hinteraktiv beweist.

*** Rund gestaltet sich ein Jahrestag aus dem Kalten Krieg: Heute vor 45 Jahren wurde Nikita Chruschtschow der Zugang zum Disneyland verwehrt, aus Sicherheitsgründen. Später wurde daraus die Urban Legend, der rabiate Kommunistenhasser Walt Disney habe sich mit allen Kräften gegen den Besuch gewehrt. Chrustschow indes vermutete, dass Disneyland insgeheim als Raketenabschussbasis funktionierte und schickte Agenten in den Vergnügungspark. Das Ganze erscheint heute so lächerlich wie die Suche von SCO nach den berühmten Beweisen für den Codeklau durch IBM, Orientierungsplan inklusive. Bedauern wir darum heute schon die Historiker, die die Auswüchsen der digitalen Schizophrenie betrachten (sofern die Daten lesbar sind), wenn ansonsten kenntnisreiche Forums-Leser den Verstand verlieren, nach Gmail-Adressen betteln oder bei der Eule von Planegg in Gästebüchern einen auf Wüterich machen. Ist hier etwa die iPod-Generation am Werke, klickdoof nur in Häppchen denkend?

*** Angesichts des feinen Players, den Apple mit seinem iPod im Angebot hat, mag die Bezeichnung iPod-Generation ungerecht sein. Die Zeitungsjungen, die bei News nach einem richtigen Casting ausgewählt werden und nach dem Blatttragen zum Redakteur heranreifen sollen, mögen solche Sachen denken. Die Häppchen indes werden DRM-gerecht von iTunes serviert, doch von einer iTunes-Generation ist nichts zu hören. Auch Microsoft bemüht sich redlich und vergreift sich an ehrwürdigen Festivals. Nach ihrer Identität suchten schon X-ray Spex, und so geht es mittlerweile auch einem Fan, der für sich in Anspruch nimmt, diesselbst dieser Band ebenso wie der Protagonisten desMonterey Jazz Festival zu sein. Wo ist meine Identität, wenn ich mich versucht sehe, Microsoft für Downloads im DRM-verkrüppelten WMA-Format zu bezahlen ... Ja, schon: Heute gibt es die Windows-Generation, junge Erwachsene, die noch nie etwas anderes als den bunten Desktop und den blauen Schirm des Todes gesehen haben, aber ich? Ich gehöre doch nicht dazu. Oder doch? Soll ich mich bekehren lassen? Identity! Nein, diese Generation ist anders, ihren Mitgliedern sagt Johnny Ramone nichts und sie finden Madonnas Reise nach Israel zu Rosch Ha-Schana toll. News kommentiert Madonnas vermeintlich modernes Judentum auf Basis einer modisch-bequem arg verballhornten Kabbalah: "Journalisten, die über ihre Reise berichten, dürfen in Madonnas Gegenwart nur weiße Kleider tragen und nicht mitschreiben." Das sind Geschichten, oder auch: Ja, ja, bei mir bist du scheen.

Was wird.

Durch Deutschland geht wieder einal ein Ruck: Auf einmal sind bereits 72.300 OBUs für die LKW-Maut verbaut und schon soll die Generalprobe des zweitehrgeizigsten IT-Projektes der Welt vorgezogen werden. Wieder geistert ein Gutachter durch die Presse, der dem System offiziell die "Masseneinbautauglichkeit" attestiert hat, wieder weiß niemand den Namen des Gutachters noch die Basis, auf der sein Gutachten erstellt wurde. Vielleicht werden wir alle schlauer sein, wenn die IAA in Hannover ihre Pforten öffnet, auf der Toll Collect die ersten ausländischen Lizenznehmer bekannt geben will.

In Berlin ist Otto Schily in dieser Woche für sein transatlantisches Engagement mit dem Preis der US-Handelskammer geehrt worden. Die Laudatio hielt Tom Ridge, der amerikanische Heimatschutzminister. Ridge und Schily "stimmten darin überein, dass die Einführung biometrischer Merkmale in Identitätspapieren" einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Terrorismus darstellt. Das wird besonders gern bei der Bundesdruckerei gehört, welchselbige nämliche Hochsicherheits-Papiere herstellt und mit einer Tagung über digitale Identität in der nächsten Woche ihren 125. Geburtstag feiert. Die Mahnungen der Wissenschaftler, dass sichere Identifikation mit der Biometrie noch lange nicht realisiert ist, auch wenn mit dem Gesicht eine "reiche Quelle von Informationen" erschlossen ist -- dass wir mit reichen Quellen und schlauen Kameras geradewegs in einen Überwachungsstaat schliddern, die Warnungen stecken wir einfach wie keimfreie Heranwachsende in weiße Anzüge und erteilen ihnen ein Schreibverbot. So ist das mit der Pressevielfalt. (Hal Faber) / (jk)