Was war. Was wird. Die Jahresendbeigabe
Das war es also, seufzt Hal Faber. Und nun kommt das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen. Nur mit wem? So bleibt, neben etwas Misanthropie, nur eines: I'll do my very best.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich – und dieses Mal wie immer zum Jahresende nicht nur und nicht alleine für die Woche, sondern sie versucht, das ganze Jahr ins Blickfeld zu bekommen.
Was war.
*** Es ist da. 2010. Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen. Bleibt die Frage, womit. Ein schwarzer, die menschliche Intelligenz fördernder Monolith wäre gar nicht schlecht, lässt man die Ereignisse von 2009 Revue passieren. Willkommen zur Rückschau im Spiegel der Statistiken der Zugriffe auf all die Texte, die der Newsticker so präsentiert hatte.
Die meisten Menschen haben als oberste Maxime und Richtschnur ihres Wandels den Vorsatz, mit dem kleinstmöglichen Aufwand an Gedanken auszukommen; weil ihnen das Denken eine Last und Beschwerde ist.
*** Ohne jede Schweife muss erst einmal ein neuer Rekord gemeldet werden. Das abgelaufene Jahr produzierte einen strahlenden Spitzenreiter über alles. Erstmals seit Beginn der Auswertung im Jahre 1996 setzte sich eine Nachricht so deutlich vom Rest des Geschehens ab. Gleich zum Jahresanfang wurde die Meldung über Windows 7 Beta 1 mit 528.570 Zugriffen neuer Spitzenreiter, der den lange dominierenden Evergreen aus dem Jahre 2004 über Windows XPs Service Pack 2 ablöste (526.680). Es ist immer wieder ermunternd zu sehen, auf welch großes Interesse Meldungen aus dem Hause Microsoft stoßen.
*** Aber wäre ein Nachrichtenticker allein mit Microsoft-Nachrichten überhaupt lesbar? Nein! Die nämliche Statistik zeigt klar und deutlich, dass Winzucht bei den Lesern nicht erwünscht ist: Greift man zur Jahresübersicht, so befindet sich Windows 7 mit insgesamt vier Meldungen zwar unter den Top Ten des Jahres 2009, doch die Nachricht über den fertigen Feuerfuchs 3.5 (214.889) und die Überlegung, die Stoppschildzugriffe (183.457) auf gesperrte URLs in Echtzeit zu loggen, belegen ebenfalls vordere Ränge. Der Vollständigkeit halber sei Google erwähnt, noch im letzten Jahr mehrfach ein absolutes Top-Thema. Diese Meldung über Chrome brachte es gerade mal auf Platz 10.
Was aber die Leute gemeinhin das Schicksal nennen, sind meistens nur ihre eigenen dummen Streiche.
*** Im Zoom auf die Top 100 ergibt sich wiederum ein gänzlich anderes Bild. Addiert man die Einzelmeldungen der Top 100, dann streiten sich der Conficker-Wurm und die Debatte um die Kinderporno-"Sperren" der ehemaligen Familienministerin um den ersten Platz über alles. Addiert man verschiedene Meldungen von Antivirenfirmen zum Würmchen, so gewinnt dieser Sicherheitsunfall klar. Überhaupt zeigen die vielen Meldungen von Heise Security in den Top 100, dass 2009 alles andere als ein sicheres Jahr für Computer war. Vorausblickend sei darum jetzt schon der einschlägige Rückblick auf das Jahr 2010 von der Sicherheitsmannschaft empfohlen: In Hannover in der norddeutschen Tiefebene steht die beste Glaskugel der Welt, gleich neben den härtesten Testräumen und der stinkenden Raucherküche – gute Werbung will schleichen.
*** Natürlich lässt sich die Sache auch anders interpretieren, die Fälschung ist bekanntlich die Mutter aller Statistiker: Conficker & Co schmelzen zu einem Häufchen Elend, wenn der Zähler die Politiker und ihre zahlreichen gemeldeten Aktivitäten im Wahljahr addiert. War im Jahre 2008 der Abgeordenete Lutz Heilmann meldungstechnisch strahlender Sieger, so steht diese Ehre nunmehr Ursula von der Leyen zu. Ihr Aktivismus im Aufstellen von Stoppschildern führt zu einem unangefochtenen ersten Platz dank vieler Einzelmeldungen zum Thema. Damit steht Frau von der Leyen in der Hall of Shame jedoch nicht auf dem Siegertreppchen: Nach den Zugriffszahlen über alle Meldungen seit 1996 führt nach wie vor Otto Schily, mit deutlichem Abstand folgt Wolfgang Schäuble auf dem zweiten Platz. Selbst wenn man Nachrichten über IT-Ikonen wie Bill Gates oder Steve Jobs mit den Politikern in einen großen Statistik-Topf wirft und zusammenrührt, bleibt Schily immer noch der Platzotto.
Die wohlfeilste Art des Stolzes ist der Nationalstolz. Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.
*** Ein sehr durchwachsenes Bild ergibt sich übrigens bei der Piratenpartei. Die Meldung vom schwedischen Sprung ins Europaparlament (125.706) schlug selbst die Meldung vom Ergebnis der deutschen Bundestagswahl (121.587), doch verschiedene Nachrichten über deutsche Piraten und ihre Aktionen verfehlten deutlich die Top 100 im Jahre 2009, in denen ein schwedisches Gerichtsurteil das Schlusslicht mit 91.929 Zugriffen bildet. Meine Interpretation frei Haus: Das Interesse der Leser an dieser Partei ist deutlich geringer, als es die vielen Diskussionen in den Heise-Foren vermuten lassen. Gut möglich, dass sich dies in Zukunft ändert, wenn die Ein-Themen-Partei ein umfassenderes politisches Programm besitzt. Wie alle Menschen, die vom Schreiben leben, bin ich natürlich befangen bei einer Partei, die mir das Leben schwer machen will und im Programm vage von einem "fairen Ausgleich" der Urheber schwafelt.
Jede menschliche Vollkommenheit ist einem Fehler verwandt, in welchen ĂĽberzugehen sie droht; jedoch auch umgekehrt, jeder Fehler, einer Vollkommenheit.
*** Kommen wir zu den traurigen Dingen, die eigentlich in keine Statistik passen. Die Meinungsfreiheit stirbt in Raten. 76 getötete Journalisten und 157 Medienmitarbeiter, die ins Exil gehen mussten, sind ein schlechtes Zeichen. Die Zeichen finden sich in Hard- wie Software wieder, wenn iPhones mit einem Programm verboten sind, das Zitate des Dalai Lama enthält, wenn die Suchmaschine Microsoft Bing in Indien die Suche nach Regierungsvorgaben filtert und wenn in Deutschland virtuelle Stoppschilder auftauchen sollten. Wo die Meinungsfreiheit stirbt, röchelt die Privatsphäre. Besonders betrüblich ist es darum, wenn es Organisationen im weiten Umfeld der IT gibt, die sich an dieser Demontage beteiligen. Ein Hack, der die anonyme Verteilung einer bestimmten Mode-Marke zeigt, zeugt noch von Phantasie, die Veröffentlichung persönlicher Daten durch Indymedia nur dumpfen Linksfaschismus, um einen halb antiken Begriff zu bemühen. Wo solche "unabhängigen Medien" die öffentliche Meinung bilden und Grundrechte ignorieren, wird man von einer e-Diktatur sprechen können.
Die Barbarei kommt wieder, trotz Eisenbahnen, elektrischen Drähten und Luftballons.
Was wird.
Das neue Jahr beginnt mit einem Geburtstagsständchen, natürlich österreichisch akzentuiert: "Fröhlich wir versammelt sind, grüßen das Geburtstagskind": Heinz Zemanek, der Konstrukteur des Mailüfterl, wird 90 Jahre alt. Sein Mailüfterl konstruierte Zemanek aus 3000 Hörrohrtransistoren der Firma Philips, die nicht schnell wie ein Wirbelwind waren, sondern eben langsam wie ein Wiener Mailüfterl.
Zemanek war lange Jahre, von 1956 bis 1968 der Direktor des IBM-Labors in Wien und von 1976 bis zu seiner Pensionierung auch IBM-Fellow, ohne jemals ein ordentlicher Professor gewesen zu sein. IBM katapultiert die kleine Wochenschau denn auch ins Jahr 2010, das Jahr, in dem IBM Deutschland seinen 100. Geburtstag feiern kann. Als ähnliche Feierlichkeiten im Jahre 1987 anstanden, verfasste der IBM-Informatiker Theo Lutz einen Blick hinter die Kulissen, komplett mit 10 Thesen, welche Rolle Computer im Jahre 2010 spielen werden. Lutz hatte in Stuttgart unter dem im letzten WWWW erwähnten Max Bense studiert, auf einem Zuse-Rechner das erste Computergedicht programmiert und später Kafka-Texte vom Computer Lutzen lassen. Seine Vorhersagen waren nicht unbedingt poetisch, aber doch bemerkenswert, wie These 1 zeigt:
"Bis zum Jahre 2010 wird der Computer ein weit verbreitetes Werkzeug sein. Der Mensch hat sich daran gewöhnt, dass der Computer nützlich ist, aber auch daran, dass ihm der Computer in vielen Bereichen überlegen ist, und dass man nicht mehr auf ihn verzichten kann und will. – Typisch für heute ist, dass wir keinerlei Gefühl dafür haben, welche Bereiche dies sein werden."
Ja, heute können und wollen wir nicht auf ihn verzichten, den Computer in all seinen Spielarten. Das Gefühl, in welchen Bereichen uns der Computer ersetzt, in welcher Weise er uns prägt und formt, haben wir längst verlernt, seitdem genau um diese Zeit vor ein paar Jahren Entwarnung gegeben wurde und das Leben mit diesen Computern eben nicht kollabierte. Viele Thesen, die Lutz vor 23 Jahren aufstellte, sind inzwischen eingetroffen. Dazu gehört die Ablösung der Telefonkommunikation durch Electronic Mail, der persönliche Desktop an jedem Arbeitsplatz, die Tele-Heimarbeit für viele Berufe und der Einsatz von Computern, um Menschen mit Behinderungen zu helfen. Bei Lutz finden wir auch schon die These vom Ende der Medien, dass immer noch eine Armada von Zeitungstodschreibeblogs beschäftigt.
"Perfekte Kommunikation: Bis zum Jahre 2010 werden die sogenannten 'Neuen Medien' in der Gesellschaft, und damit auch im privaten Bereich, so aktzeptiert und verbreitet sein, dass sich das Individuum im Austausch von Daten, Texten, Bildern und Stimme mit höchster technischer Qualität unabhängig von Raum und Zeit bewegen kann."
Das Auge wird durch langes Anstarren eines Gegenstandes stumpf und sieht nichts mehr: Ebenso wird der Intellekt durch fortgesetztes Denken über dieselbe Sache unfähig, mehr davon zu ergrübeln und zu fassen.
Wie schön, dass diese Wochenschau, der Newsticker und viele andere Angebote von Heise zeigen, wie es weitergehen kann! Ich schließe die Jahresendbeigabe dennoch mit Trauer in der Tastatur und der These 9 von Theo Lutz. Sie berichtet uns von einer anderen, besseren Zeit, die uns nach allen Datenpannen und Datenerschleichereien im Jahre 2009 doch sehr, sehr fern erscheint, nach diesem verlorenen Jahrzehnt des Datenschutzes.
"Auch im Jahre 2010 wird die aufgeklärte und demokratische Gesellschaft ihre spezifischen Ängste haben, aber sie werden wenig mit dem Computer zu tun haben. Themen wie 'Angst vor Überwachung', 'Jobkiller', 'Datenschutz' u.a. werden nicht mehr im Zusammenhang mit dem Computer gesehen. Datenschutz wird als Bürgerrecht akzeptiert und respektiert sein."
Auf ein spannendes 2010! Mögen alle guten Vorsätze in Erfüllung gehen!
Kolophon
Was wäre ein Jahresendbeigabe-WWW ohne ein dickes Dankeschön an all die Menschen, ohne die es diese Kolumne nicht geben könnte? Das WWWW hatte es dieses Jahr tatsächlich auf Nummer 500 gebracht, als nächstes Jubiläum könnte der 10. Geburtstag im Februar gefeiert werden. Das erste Dankeschön geht an den kleinen Verlag in der norddeutschen Tiefebene, der diese Schauerei möglich macht, das zweite an die Kollektive, die meine Arbeit möglich machen. Die Mitarbeiter an Ubuntu, Firefox, Thunderbird und Gedit, die namenlosen Zuträger der Wikipedia, die Kärrner von Wikileaks. Dann wären da die vielen Individuen, die auch im Jahre 2009 selbstlos viele, viele Tipps und Hilfestellungen gaben, etliche davon anonym, die anderen in alphabetischer Reihenfolge: Christian Ankowitsch, Andreas Bogk, Ralf Bülow, Hans Franke, Wolfgang Formann, Peter Glaser, Markus Hansen, Anja Höfner, Thorsten Kleinz, Andreas Kuckartz, Felix von Leitner, Achim Meissner, Klemens Polatschek, Wolf-Dieter Roth, Mathias Schindler, Christiane Schulzki-Haddouti, Harald Taglinger, Volker Weber, Bettina Winsemann, Nils Zurawaski. Und wie üblich darf die Musik nicht fehlen, die das WWW häufig begleitet hat, abseits von Peter Maffay und Bobby Goldsboro, die 2009 in einem WWWW auftauchten. Der Applaus geht diesmal an Colin Stetson, New History of Warfare; Angles, Every Woman is a Tree; Orchestre International Du Vetex, Flamoek Fantasy; Wu-Tang Clan, Chamber Music. Und natürlich an den Weltherrscher mit ja, nein, vielleicht auch nicht! (jk)