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Was war. Was wird.

Den advocatus diaboli spielt Hal Faber gerne, um so mehr, da ihm ein ganzes Jahr als Material zu Diensten zu sein hat.

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Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Hal Faber

Vorspiel, ganz ohne Theater

Ich muß dich nun vor allen Dingen
In lustige Gesellschaft bringen,
Damit du siehst, wie leicht sichs leben läßt.
Dem Volke hier wird jeder Tag ein Fest.
Mit wenig Witz und viel Behagen
Dreht jeder sich im engen Zirkeltanz,
Wie junge Katzen mit dem Schwanz.
Wenn sie nicht über Kopfweh klagen,
So lang der Wirt nur weiter borgt,
Sind sie vergnügt und unbesorgt.

Bei aller Ausdehnung der Virtualität und so gerne unsereiner advocatus diaboli spielt, auch eine virtuelle Existenz kann noch mit Mephistos Fähigkeiten nicht Schritt halten. So kann ich die Leser selbst bei gegebenem Anlass nicht in Auerbachs Keller einladen, sondern muss mich bescheiden: Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber, die in diesem Falle gar keine Wochenschau ist, den Blick für die Details schärfen. Sie ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich. Das aber heute, wo doch ein neues Jahr bevorsteht: Böller Marke "Hacker's Revenge" krachen den Ersten gefährlich in den Händen. Eine "Firewall" brennt funkenschlagend ab, "Supercracker" knallen. "Desert Storm"-Raketen zischen durch die Luft: 2002 ist vorbei und 2003 wird alles anders. Latürnich.

So sei es auch in diesem Jahr gestattet, dass die Wochenschau sich dem allgemeinen Endjahrestrend, der in gewissen Medien bereits im November einsetzt, ganz zum Schluss doch nicht entziehen mag. Nachdem meine Wenigkeit schon das neue Millennium mit einem Rückblick auf Tausend Jahre Computerei begrüßen durfte und das Jahr 2001 als Bielefeld-Jahr verabschiedete, sei es mir also auch dieses Mal vergönnt: Ein kleiner, wenn auch notwendigerweise unvollständiger Rückblick auf das vergangene Jahr soll nicht fehlen.

Was war.

*** Buchhalterisch geht es bei der Verabschiedung eines Jahres zu. Was hat es gebracht? Sind wir reicher und weiser geworden, die Computer schneller und sicherer, das Internet internationaler? Die Bilanz kann sich sehen lassen. Ich habe zum Beispiel gelernt, was eine vasovagale Synkope ist, als sich der beliebte amerikanische Präsident an einer Brezel verschluckte. Ein paar Brezelrezepte eifriger Leser sind ebenfalls auf der Haben-Seite, jedenfalls die ohne Seife.

*** Kann sich die Bilanz auch sehen lassen, wenn man in der Statistik der Nachrichten blättert, die tagein, tagaus über den Newsticker laufen? Reicher ist die Branche ganz sicher geworden. Allen Unkereien zum trotz wurden noch nie so viele Computer und Peripheriegeräte abgesetzt, vor allem von Discountern, die tagein, tagaus untrinkbare Weine und billige Nudeln im Angebot haben. Die Schnäppchenschlachten von Aldi, Lidl und Co. sind mit jeder Nachricht unter den Top 100 des Jahres 2002 gelandet. (Um in diesem Ranking zu landen, muss eine Nachricht zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr als 89.000 Abrufe am Tag ihrer Veröffentlichung erzielen). Addiert man die Discounter-Meldungen und die Zugriffe, besorgten sie fast 70% aller Besuche bei den Nachrichten von heise online. Besser kann man nicht illustrieren, wie ein Land von Wohlstandsbürgern sich auf die digitale Zukunft vorbereitet: "Geiz ist geil!" Das ist der neue Nationalschrei geworden, der das Deutschlandlied mit allen Strophen abgelöst hat.

*** Sind die Computer schneller und vor allem sicherer geworden? Aber nicht doch. Nachrichten über JDBGMGR.EXE (195.971 Zugriffe) schaffen es locker unter die Top 10. Und noch der allerletzte Platz der Top 100 beschäftigt sich mit dem mengenmäßig führenden Lieblingsthema unserer Leser, den unsicheren Kisten. Den absoluten Spitzenplatz von Nimda aus dem Jahre 2001 (322.224 Zugriffe) konnten die Meldungen freilich nicht gefährden. Bleibt die Spitzenmeldung des Jahres 2002 übrig, die zu Denken gibt. Mit 264.946 Zugriffen und dieser Meldung dürfen wir Microsoft begrüßen, das, nach Firmennamen aufgeschlüsselt, die Nummer 1 in den Charts stellt, freilich nur knapp vor der Telekom. Zur Abrundung sei noch das Ranking nach Personen genannt: in der Zugriffsgunst der Leser von heise online siegte 2002 Freiherr v. Gravenreuth vor Kim Schmitz und Jürgen Büssow.

*** Ein Bruchteil der Leser von heise online wagte sich ins Forum, in diesen seltsamen Bereich, in dem Flammenwerfer in Stellung gebracht werden, in dem der Freitag den Sonntag ersetzt hat. Dennoch ist auch hier ein Blick auf die "nackten" Zahlen nicht uninteressant. Knapp 120.000 (exakt 120.010) sind im Forum angemeldet und streiten sich mit einer Leidenschaft, die manchmal auch Leiden schafft: 997 Teilnehmer wurden in diesem Jahr aus den Foren gesperrt, einige kurzfristig, andere für längere Zeit. Was bleibt, wenn die Verbitterung verflogen, die Besinnung wieder eingekehrt ist? Natürlich die Erkenntnis, dass auch aus den Foren und den Debattenschlachten der Zeitgeist des Hauses ermittelt werden kann, ohne dass eine vielgepeitschte Suchmaschine dafür herhalten muss.

*** Was ausgesperrt ist, bezeichnet die Psychoanalyse als Verdrängung: Die computerbezogene Nachricht des Jahres, die Deutschland am meisten beschäftigte, war die Ermordung von 16 Menschen durch einen Schüler in Erfurt, der offensichtlich in die Welt der Ego-Shooter eingetaucht war. Daraus konstruierten findige Feuilletonisten flugs den Vorwurf, dass Counter-Strike die Wurzel des Übels sei -- Daddeln für Erfurt statt Bowling for Columbine. So pflegt jeder seine Vorurteile, das Feuilleton beim Erkennen der Jugend von heute und die Deutschen beim Anblick von Michael Moores hässlichen Amerikanern. Doch selbst die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften war zumindest bezüglich Counter-Strikes anderer Meinung. Die Überraschung: Obwohl heise online die schräge Debatte ausführlich verfolgte, taucht das Thema nicht unter den Top 100 auf. Ähnlich erging es zwei Personen, die als "Herren des Cyberspace" aufbrachen, die Reste der Dot.com-Blase zu vernaschen und sich dabei unversehens in einer (sicher komfortablen) Ich-AG wiederfanden. Ron Sommer und Thomas Middelhoff mochten mitsamt der Endlosdebatte um ihre Nachfolger mengenmäßig die Tickermeldungen dominieren und sogar Bill Gates überrunden, doch den Lesern von heise online waren sie nicht interessant genug. Ach wären sie nur an der Börse gewesen und nicht staatsnah gegängelt, darf geseufzt werden. Dann hätte Deutschland auch seine Enron-und Worldcom-Skandale bekommen: Neben der Verdrängung lehrt uns die Psychoanalyse die Verschiebung. Sie sorgt beispielsweise dafür, dass hartgesottene Techniker sich in eine Tischlampe verlieben (109.776 Zugriffe, ein Spitzenreiter).

*** Microsoft ist ein Thema, das sich schwer mit einfachem Beinchenzählen erledigen lässt. Die Topmeldungen aber sprechen neben einer scheinbar deutlichen Sprache auch noch für sich und sind in dieser Ballung doch wenig aussagekräftig. Nimmt man die weniger gängigen Meldungen zu den verschiedenen immer wieder auftauchenden Gerichtsfehden hinzu und addiert die kommenden Ereignisse, so sieht das Bild schon etwas anders aus. Dabei braucht nicht einmal der Dauerstreit um Linux bemüht werden, der im nächsten Jahr wie das Hornberger Schießen ausgehen kann. Denn abseits all der wirklich nutzlosen Debatten um das beste Betriebssystem hat Microsoft mit Palladium ein Thema gesetzt, das die Gemüter beunruhigt. Techniker und Juristen, dazu ein paar Forscher und sogar Politiker beschäftigen sich bis zu den letzten Stunden des alten Jahres mit dem kniffligen Thema. Man braucht keine Kristallkugel und keinen Schlapphut zur Vorhersage, dass Palladium und das vertrauenswürdige Computern das Hauptthema des Jahres 2003 sein werden.

*** Eigentlich müsste das Thema Überwachung und Kontrolle des Internet nur einen kleinen Blick in die deutsche Provinz zulassen. Doch es tut es nicht, das Thema ist weltweit gesetzt. So sind uns andere Länder mindestens ebenbürtig, nicht zuletzt die freiheitsliebenden Staaten von Amerika. Dass darum am Ende des Jahres ein deutscher Kanzler China richtig knorke findet und für ein freies Internet mit einer Rede wirbt, in der das Wort Demokratie anscheinend fehlt, ist eine Pointe der Geschichte, die bekanntlich nichts lehrt -- oder nur, dass Computer miserable Wahl-Rechner sind.

*** Müsste man das Jahr 2002 in eine Form gießen, so käme nur ein Gegenstand in Frage, der gleichermaßen als Top und als Flop die vergangenen 365 Tage symbolisieren kann. Der mit Computern voll gestopfte Human Transporter von Segway ist ein Hightech-Erzeugnis vom Feinsten und transportiert eine Idee, die man getrost rückschrittlich nennen kann. Das Gerät hat sich im Weihnachtsgeschäft gut geschlagen und ist drauf und dran, ein absolutes Muss für bewegungsfaule Dickerchen zu werden. Nicht anders ist es der IT-Branche ergangen, die denkfaul an Hightech-Lösungen bastelte und früh sichtbare Trends ignorierte, bis sie vor der Haustür standen. So ist es mit UMTS und dem drahtlosen LAN gegangen, so wird es mit den vertrauenswürdigen Computern gehen.

Was wird.

Wird es besser werden, wenn es anders wird? Werden wir weiser, die Computer sicherer, Messen größer? Schon preist sich die CeBIT als das Davos der IT-Branche an. Erfasst die Branche ein Aufwind oder geht es weiter bergab? Die Meinungsforschung ermittelte, dass die Stimmung der Deutschen so mies ist wie selten zuvor. Nur Anfang der 80er sollen die Werte ähnlich schlecht gewesen sein, damals, als der Computer zum Man of the Year gewählt wurde. Nun haben es drei Frauen geschafft und sind zur kollektiven Person of the Year gewählt worden. Als Whistleblower, Warner würde man auf Deutsch mangels echter Entsprechung sagen müssen und die Bedeutung weglassen, die dem Ausdruck "to pay for one's whistle" innewohnt. Ja, der Spass mit der Wolkenkuckucksökonomie wird noch eine gute Weile lang abbezahlt werden müssen, auch bei uns, wo niemand pfeift, sondern nur über das letzte Loch klagt.

So macht es doppelt Spaß zu lesen, wie einstige Wunderkinder der Branche vor der kommenden Krise schlottern. Wie Star-Analysten teure Vorhersagen zimmern, in denen Banalitäten wie die Verbreitung von drahtlosen LANs bejubelt werden. Man kann es auch anders machen und richtig langweilig sein. Oder den Siegeszug Asiens oder den Start des chinesischen Jahrhunderts feiern.

Da muss ich doch gleich mich selbst zitieren, wenn es denn ausnahmsweise einmal gestattet ist: "Es wird neue E-Mail-Würmer und Viren geben, neue Flatrate-Anbieter, die Pleite gehen oder auch nicht, noch mehr Milliarden-Kredite für die Telecom-Firmen, mehr Dot.Com-Pleiten und neue Bobo-Ideen, neuer Streit, wer eigentlich für all das Zeug, das es im Internet so gibt, wie viel bezahlen soll -- und was da all der welt- und menschheitsbewegenden Angelegenheiten mehr wäre. Eines jedenfalls feierte dieses Jahr fröhliche Urständ, wie es dies nicht einmal zu den seligen Zeiten von OS/2 gab, und dürfte auch im neuen Jahr von Höhepunkt zu Höhepunkt schreiten: Das Proselyten-Machen unter den EDV-Freaks. Kaum eine Firma, Software oder eine Technik, die sich nicht eines eigenen, eifrigen Fan-Clubs erfreuen darf." Ist Hal ein Prophet? Nun, wenn das alles ist, was es braucht, Prophet geheißen zu werden, dann ist jeder Heiseticker-Leser ein Prophet. Aber ich bin des Prophetentums leid, vor allem deshalb, weil die ganze Sache so unendlich langweilig ist. Und mit ständiger Wiederholung auch nur noch mehr Aggressionen auslösend: Ist es nur mir so ergangen, dass der Ton zwischen Linux- und Microsoft-Jüngern, zwischen Intel- und AMD-Adepten härter zu werden schien? "Knowledge corresponds to the past, it is technology. Wisdom is the future. While knowledge may provide useful point of reference, it cannot become a force to guide the future", um es mit den Worten von Altmeister Herbie Hancock zu sagen. Weisheit, ja, das wäre etwas, was manche Hightech-Sekten gebrauchen könnten. Sie würden sich dann endlich auflösen und vernünftigen Dingen zuwenden.

Vielleicht hat es ja einer der geneigten Leser bemerkt: Nicht nur die Bitte für die Erlaubnis zur Selbstreferenz führte zu einem Eigenzitat, der gesamte vorherige Absatz ist selbstreferenzieller Hal. Ist nun der Größenwahn ausgebrochen, das meinereiner meint, seine Worte seien des Vergessens zu schade? Viel schlimmer: Die Propheterei ist immer noch aktuell und die von ihr beschriebene Sachlage eigentlich allzu offensichtlich, als dass man sich nicht täglich schwarzärgern könnte über all das dumme Geschwätz aus verschiedenen, allein verschwörungstheoretisch bewanderten Lagern. Alles wird anders, aber nichts wird besser ...

Unbescheidenheit jedenfalls ist eine Zier, wenn die Trends im neuen Jahr benamst werden müssen und es doch so wenige und dann immer wieder die alten sind: Moores Gesetz gilt vorerst weiter. Apple macht sein Patent wahr und kommt mit bunten Rechnern, die zart erröten, wenn die Liebste/der Liebste/das Liebste eine E-Mail geschickt hat und schwarz grollen, wenn Geschlechtsnocken eintrudeln. Heute wird der großzügige Spender genannt, der jeweils 100.00 Dollar für die Projektarbeit bei der Öffnung der Xbox zahlt. Mit Palladium wird es nicht die letzte Spendenaktion dieser Art sein.

Mit einem Präsidenten startete der Jahres-Rückblick, mit einem anderen endet er. "Ich darf alles drücken, außer Escape", verkündete Bundespräsident Rau bei der Eröffnung des Portals Deutschland.de. Recht hat er. Aus dieser Wirklichkeit werden wir nicht entlassen: Get a life verlangten die Stiff Little Fingers, als sie schon lange nicht mehr auf der Suche nach einem alternativen Ulster waren. Ihnen und uns bleibt der Wunsch: Ein gesundes, ein friedliches, ein erfolgreiches 2003. (Hal Faber) / (jk)