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1 Jahr Pokémon Go: Spaß, trotz allem

Gerald Himmelein
1 Jahr Pokémon Go: Spaß, trotz allem

Lahmende Server, schlechtes Wetter, renitente Monster: Aller Widrigkeiten zum Trotz erfreut sich Pokémon Go nach wie vor einer großen Spielergemeinde. Kurz vor dem ersten Geburtstag sorgen neue Arenen und Raids für neue Motivation.

Ein Raid-Ei explodiert.

Ein Raid-Ei explodiert.

Unter einem Baum am Straßenrand stehen drei Männer und blicken etwas verloren um sich. Augen aufs Handy: Neben dem Baum ragt eine Arena in die Höhe, in der ein Raid-Boss auf kampflustige Pokémon-Go-Spieler wartet. Der Boss ist Schwierigkeitsgrad 4, ein Despotar – zu dritt nicht zu bezwingen. Die drei warten auf Mitstreiter, um das große Viech zu erlegen. Ist das geschafft, lässt es sich mit etwas Glück einfangen.

Die Zeit verrinnt: Jeder Raid ist nur 60 Minuten lang verfügbar, danach verschwindet das Monster wieder und die Arena ist wieder wie zuvor den Revierkämpfen der drei Teams (Rot, Blau und Gelb) ausgesetzt.

Nach einer Viertelstunde findet sich ein Vierter. Fünf wären ideal, aber was solls: Auf in den Kampf. Der erste Angriff scheitert kläglich, der zweite Versuch misslingt nur um Haaresbreite. Im dritten Anlauf bezwingen sie Pokézilla dann doch noch, drei von vieren fangen es sogar. Ansonsten gehören die vier Spieler zu konkurrierenden Teams, Raids erfordern jedoch Team-übergreifende Zusammenarbeit. Man gratuliert einander, plaudert noch ein wenig und geht dann wieder auseinander, mit den Worten: "Bis zum nächsten Raid!".

Raids sind die neueste Motivationsspritze für Pokémon Go, dem großen Hype-Spiel im Sommer 2016 [1]. Entwicklerstudio Niantic hatte einige Prinzipien seines Augmented-Reality-Spiels Ingress [2] mit der Pokémon-Lizenz kombiniert und dabei einen Nerv getroffen. Bei Ingress gehts um die Weltherrschaft, bei Pokémon Go ums Fangen putziger Viecher. Der Clou beider Spiele: Die virtuelle Welt ist fest mit den Koordinaten der realen Umgebung verdrahtet. Um im Spiel voranzukommen, muss man sich durch die reale Welt bewegen. Das "Go" im Namen ist eine direkte Aufforderung: Geh spielen!

Und so kommt es im Sommer 2016, dass Teenager und Business-Kasper weltweit gemeinsam auf Monsterjagd gehen – an der Straße, in Parks und an Flüssen und Seen entlang, weil sich dort seltene Wasser-Pokémon materialisieren. Um diese zu fangen, bewirft man sie mit Bällen, die man an Knotenpunkten namens Pokéstops einsammelt.

Der Ansturm überrennt die Macher des Spiels [3]: Über Tage hinweg gehen die Server stundenlang in die Knie [4]. Pokémon Go ist wie ein hipper Club, in dem die Luzi abgeht – sofern man es schafft, irgendwie reinzukommen.

Ende Juli laufen soviele Leute mit gesenktem Kopf durch die Gegend, dass einige Medien über Pokémon Go berichten wie über eine Seuche. ("Millionen Leute gehen an die frische Luft, spielen und haben Spaß. Ein paar Deppen achten dabei nicht auf den Verkehr. Was tun unsere Politiker gegen dieses Spiel? Gleich nach der Werbung.") In den USA erblöden sich einige Gemeinden sogar, Maßnahmen zu ergreifen, um Pokémon Go aus ihren Parks zu verbannen [5]. Weil Parks ja bekanntlich nicht zum Spielen da sind.

Die Welt trennt sich in zwei Gruppen: Die eine spielt Pokémon Go, die andere nimmt den Spielern ihren Spaß übel. Immer wieder soll man sich rechtfertigen. Besonders irritiert Fragende die Erwiderung, dass man es nicht spielt, weil es alle spielen, sondern weil es Spaß macht.

Pokémon Go: Die Neuerungen des Anniversary-Updates (0 Bilder) [6]

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Dann kommt der Herbst. Angesichts frierender Finger verlieren die Gelegenheitsspieler den Spaß an immer wieder denselben Taubsis und legen das Spiel beiseite. Mit einem Halloween-Event [8] versucht Niantic, dem Spielerschwund entgegentreten: Eine Woche lang wimmelt es überall von Gruselmonstern – naja, gruselig nach dem Standard eines Fünfjährigen.

Aber zumindest in Europa hat das Wetter die stärkeren Argumente. Weitere Events folgen, bei denen die Server thematisch zusammenhängende Viecher spammen: pinke Pokémon [9], Wasserwesen [10], Graskriecher [11], Steinmonster [12], Feuer- und Eisspucker [13]. In den folgenden Monaten dominieren Schummler das Spiel – sie "snipen" mit GPS-Spoofing-Apps und Emulatoren vom Sofa aus gezielt rare Pokémon. Damit übernehmen sie Arenen im Dutzend, was den verbliebenden Spielern auf der Straße vollends den Spaß zu vergällen droht.

Erschummelte Pokémon werden gebrandmarkt.

Erschummelte Pokémon werden gebrandmarkt.

(Bild: KERL0N auf Reddit [14] )

Jugendlichen Spielern begegnet man kaum noch, dafür durch die Gegend stapfenden Männern, die mit Hund, Powerbank und Handschuhen vor einer Arena frieren und sich bei Begegnungen erst freuen, dass es noch andere Spieler gibt, und dann die Schultern hängen lassen, wenn sie zum anderen Team gehören.

Spät beginnt Niantic, gegen Schummler durchzugreifen [15]. Erst im Winter werden automatisiert fangende Bot-Accounts gesperrt. Im Juni 2017 trifft es endlich auch Cheater, die zum Fangen quer über den Globus gebeamt sind: Ein roter Strich zieht sich durch ihre ermogelten Pokémon, die jeglichen Kampfeinsatz verweigern. Gegen einige Spoofer-Typen bleiben die Spielemacher jedoch bis heute machtlos: Bei Raids kommt es immer wieder vor, dass drei Kämpfer gegen den Boss antreten, aber nur einer tatsächlich an der Arena steht.

Von Anfang an kritisierten Spieler die Unausgegorenheit mancher Spielaspekte. Konkret: Die Kampfarenen sorgten für mehr Frust als Spaß; in Interviews gaben selbst die Entwickler zu, dass die Umsetzung weit hinter den Ambitionen zurückblieb. Da Arenen aber die einzige Einkommensquelle für die Spielwährung sind, mussten Spieler sich halt mit dem Zustand arrangieren. Gewiefte Power-Player hatten schnell raus, wie man die Schwachstellen des Systems gezielt ausnutzt. So sicherten sie sich das tägliche Maximaleinkommen von 100 Coins, während der Rest sich schon über 10 bis 30 Coins freute.

Das neue Arena-System erzwingt Vielfalt.

Das neue Arena-System erzwingt Vielfalt.

Mehrere halbherzige Versuche zur Veränderung des Status Quo halfen wenig: Mal wertete Niantic einige Monstertypen auf und andere ab, dann wurde die Durchschlagkraft vormals bewährter Angriffe so drastisch reduziert, dass wirklich niemand mehr zufrieden war. Aber Niantic hörte auf seine Spieler und steuerte innerhalb von 24 Stunden gegen.

Über den Winter hinweg verteilte Niantic immer wieder neue Motivation in Form zusätzlichen Contents, will heißen: neuer Pokémon. Seit Dezember schlüpfen Babys aus den Eiern [16], die man nur durch Bewegung ausbrüten kann – je nach Farbe geht man 2, 5 oder 10 Kilometer, bis es "Oh?" macht und die Eierschale zerbirst. Gratuliere, es ist ein Togepi. Mitte Februar kam ein ganzer Schwung neuer Monster [17] hinzu, die fast komplette "Generation 2".

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Zeitgeist bereits gedreht. Wieder mussten Spieler sich rechtfertigen. Diesmal war die Frage, warum man das überhaupt noch spiele, obwohl die anderen doch längst aufgehört hatten. Wenn man trotz Sauwetter durch die Gegend latschte, in der Hoffnung auf einen seltenen Fang hinter der nächsten Flusswendung, stellte man sich die Frage mitunter selbst. Ach ja, richtig: Spaß. Und Bewegung.

Im späten Frühling ließ Niantic dann die Katze aus dem Sack: Ein neues Arena-System sei in Vorbereitung. Am 19.  Juni 2017 [18] wurde das alte System abgeschaltet, am 22. Juni gingen die neuen Arenen online [19], zwei Tage später starteten die ersten Raids [20].

Plötzlich ist ganz viel neu und ganz viel wie früher: In den ersten 24 Stunden gehen die Server immer wieder in die Knie, Arena-Kämpfe brechen ab, Pokémon verschwinden, "Netzwerkfehler" grassieren. Bei den Raids dasselbe: Ausweichen geht nicht, erfolgreiche Angriffe werden nicht angerechnet. Wieder schraubt Niantic heftig an den Servern und an der App [21]. Mittlerweile funktioniert vieles, es bleibt aber immer noch viel Luft nach oben.

Aber trotz der vielen kleinen Probleme: Das Konzept funktioniert, es macht Spaß. Power-Player werden durch ein Limit von 50 Coins pro Tag ausgebremst, schwächere Spieler durch die neue Arenastruktur gestärkt. Und das Hauptziel des Spiels war ja eh noch nie das schnelle Hochleveln, sondern die Bewegung.

Warten auf Mitspieler für den Raid.

Warten auf Mitspieler für den Raid.

Ob sich ehemalige Spieler damit zurücklocken lassen, bleibt abzuwarten. In jedem Fall hat sich das Update für Niantic finanziell gelohnt: Durch den In-App-Shop wurde Pokémon Go Ende Juni wieder zum Mobilspiel mit dem größten Umsatz. Dem Analysedienst Apptopia zufolge hat Pokémon Go seinen Machern bisher 1,2 Milliarden Dollar in die Kasse gespült, die bestimmt nicht alle für Server-Instanzen draufgegangen sind. Weltweit soll das AR-Game derzeit 60 Millionen aktive Spieler besitzen [22].

Die Spielerzahlen vom Sommer 2016 wird Pokémon Go gewiss nie wieder erreichen. Das bekommen auch die übrig gebliebenen Spieler bei Raids deutlich zu spüren: Schön, wenn auch ohne WhatsApp-Aufruf zwei, drei Kämpfer zusammenkommen. Beim Despotar-Raid neben dem Baum seufzt ein Spieler nach der zweiten Niederlage: "Jetzt sollte man ein paar Spoofer herbeirufen können" – zur Verstärkung. Lieber mit virtueller Unterstützung siegen als allein scheitern? Schnell kommt die Gruppe überein, dass das nicht die Lösung sein kann.

Und als die Vier den Raid-Boss im dritten Anlauf doch noch besiegen, grinsen alle zufrieden. Selbst der größte Nörgler in der Runde muss zustimmen, dass dieser Raid definitiv Spaß gemacht hat. Pokémon Go ist wieder zur Herausforderung geworden. Das Wetter wird wieder besser. Die Spielermassen dürfen gerne wiederkommen. Aber notfalls gehts auch ohne, Hauptsache es macht Spaß. (ghi [23])


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Nachtaktion-in-Hannover-zog-1000-Spieler-an-3269063.html
[2] https://www.heise.de/news/Augmented-Reality-Spiel-Zwei-Jahre-Ingress-126-Millionen-gelaufene-Kilometer-2460325.html
[3] https://www.heise.de/news/Wie-Pokemon-Go-sogar-Google-platt-gemacht-hat-3339548.html
[4] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Server-in-Europa-und-den-USA-mit-Verbindungsproblemen-3269185.html
[5] https://www.theverge.com/2017/2/7/14537680/pokemon-go-milwaukee-county-parks-niantic-banned-permits
[6] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3751652.html?back=3764087;back=3764087
[7] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3751652.html?back=3764087;back=3764087
[8] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-goes-Halloween-Haufenweise-rare-Monster-3361846.html
[9] http://pokemongo.nianticlabs.com/de/post/valentines2017
[10] https://www.heise.de/news/Weltwassertag-Pokemon-Go-geht-baden-3662312.html
[11] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Mini-Event-fuers-Wochenende-3704063.html
[12] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Abenteuerwoche-mit-lila-Flugsaurier-3716318.html
[13] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Sommerplaene-fuer-Pikachu-Co-3740210.html
[14] https://www.reddit.com/r/TheSilphRoad/comments/6ini8o/
[15] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Niantic-schickt-Cheater-in-die-Pokemon-Hoelle-3729928.html
[16] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Weihnachtsaktion-zielt-auf-den-Geldbeutel-3568892.html
[17] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-2-Generation-Geschlechter-neue-Beeren-3629570.html
[18] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Arena-Update-rueckt-naeher-3746148.html
[19] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-24-Stunden-mit-dem-neuen-Arena-System-3754980.html
[20] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Raid-Kaempfe-fuer-fast-alle-3757328.html
[21] https://www.heise.de/news/Pokemon-Go-Update-bringt-wenig-Linderung-3760813.html
[22] https://venturebeat.com/2017/06/30/pokemon-go-passes-1-2-billion-in-revenue-and-752-million-downloads/
[23] mailto:ghi@ct.de