42 Wolfsburg: Programmieren lernen mit Levelaufstieg

42 Wolfsburg ist eine private und gebührenfreie Programmierschule, die überwiegend von VW gefördert wird. Wer hier studiert, lernt auf unkonventionelle Weise.

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(Bild: 42 Wolfsburg)

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Von
  • Peter Ilg
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Mitte Mai wurde die Programmierschule 42 Wolfsburg eröffnet. Hendrik Lehmann, 24, ist im ersten Jahrgang. Wie lange er an der Schule bleiben darf, hängt davon ab, wie zügig und erfolgreich er seine Projekte abschließt. Jeder Studierende hat ein Startguthaben von 77 Tagen. Jeden Tag wird ein Tag abgezogen. Würde Lehmann für seine Projekte zu lange brauchen oder sie inhaltlich in den Sand setzen, müsste er nach 77 Tagen die Schule verlassen. Doch er ist schnell und gut, deshalb liegt seine Verweildauer aktuell bei 130 Tagen. Diesem Druck der rückwärts tickenden Uhr müssen alle Programmierschüler an 42er-Schulen standhalten.

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Der erste 42 Campus wurde 2013 in Paris gegründet. Inzwischen umfasst das Netzwerk 33 Standorte in über 20 Ländern mit rund 10.000 Studierenden. In Deutschland gibt es seit diesem Jahr mit Wolfsburg und Heilbronn zwei Schulen. "Bei uns lernen die Studierenden ohne Lehrende und Kurse nach dem Prinzip des Peer Learning von und mit Kommilitonen und indem jeder selbst die Lösung einer Aufgabe findet", sagt Max Senges, Rektor und CEO von 42 Wolfsburg.

Die Teilnehmer der Schule spielen gewissermaßen sich durchs Curriculum, sammeln dabei Punkte und steigen so Level für Level auf. Wer auf dem Level 21 ankommt, hat die gesamte Ausbildung geschafft. Das ist Lernen wie Computerspielen. Klassische Theorie gibt es an keinem 42-Campus, die Studenten lernen immer das, was sie zum Lösen einer Aufgabe brauchen.

Aus rund 6.000 Bewerbungen wurden nach einem zweistündigen Online-Test, in dem algorithmisches Denken und Lernappetit geprüft wurden, 450 für ein vierwöchiges Bootcamp ausgewählt. "Nach diesem Monat haben wir eine recht eindeutige Liste, wer die notwendige Motivation mitbringt, Peer-Learning-Denkweise hat und folglich aufgenommen wird", sagt Senges.

150 sind es in Wolfsburg gewesen. Volljährigkeit ist das einzige Aufnahmekriterium. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, etwa die Hälfte der Teilnehmer kommt aus Deutschland. Daneben sind Griechenland, die baltischen Länder und Osteuropa stark vertreten. Ein Viertel sind Frauen. "Wir setzen auf radikale Inklusion, damit die Teilnehmenden lernen, mit unterschiedlichen Perspektiven umzugehen", sagt Senges. Die Schulsprache ist Englisch.

Alle 42-Programmierschulen sind gebührenfrei, wirtschaftlich getragen werden sie von Sponsoren. Der Hauptsponsor von Wolfsburg ist VW mit 3,7 Millionen Euro zum Start, danach schießt der Automobilkonzern 2 Millionen Euro als Grundfinanzierung jährlich dazu. Microsoft, Google, Red Hat sind weitere Geldgeber. Irgendwelche Verpflichtungen gehen die Schüler den Sponsoren gegenüber nicht ein. VW unterstützt laut Personalvorstand Gunnar Kilian die innovative Form des Lernens damit sie "die Zukunft der Mobilität bei Volkswagen mitgestalten". Software-Kompetenz entscheidet mit darüber, ob VW auch künftig erfolgreich sein kann.

Lehmann hat nach dem Abitur Maschinenbau studiert und nach einigen Semestern abgebrochen. Ihm war das übliche Studium zu viel Theorie und zu wenig Praxis. "An der 42 Wolfsburg ist das komplett anders." Die ersten Monate der Ausbildung waren für alle komplett online. In diesen Tagen sind die ersten Studierenden vor Ort, echte Erfahrungen im Präsenzunterricht gibt es deshalb noch nicht.

Ob nun remote oder vor Ort: Gelernt wird stets nach dem Flow-Prinzip: "Jede Aufgabe ist eine Herausforderung und wenn man sie löst, hat man ein Erfolgserlebnis", sagt Lehmann. Dadurch entwickle man sich fachlich sehr schnell – und wenn man nicht weiterweiß, findet man immer einen, der weiß, wie es geht und weiterhilft.

Bislang bekam Lehmann seine Aufgaben als PDF-Datei zugeschickt. Unter anderem hat er eine virtuelle Maschine aufgebaut. Evaluiert wurden die Codes von drei Kommilitonen, die per Zufall ausgewählt wurden. Für die Evaluierung musste er seine Programme verteidigen. Das hat in beiden Fällen geklappt und Lehmann so Tage gesammelt. An der Schule 42 Wolfsburg erfährt er viel Kollegialität und Hilfsbereitschaft. "Alle sind hoch motiviert und nett", sagt Lehmann. In seinem Studium an der öffentlichen Hochschule sei Druck und Rivalität gefördert worden. Das hat ihn demotiviert.

Das Grundstudium dauert ein Jahr, dann folgt ein halbjähriges Praktikum. Anschließend wählen die Studierenden eine von zahlreichen Spezialisierungen, darunter Software-Engineering Automotive. Diese Fachrichtung entwickelt 42 Wolfsburg neu und für das gesamte Netzwerk. Anschließend folgt wieder ein sechsmonatiges Praktikum. "Wie schnell die Studierenden fertig werden, hängt davon ab, wie intensiv sie lernen", sagt Senges. Es ist ein Vollzeitstudium, aber viele arbeiten parallel. Von anderen Schulen ist bekannt, dass die Ausbildung vier bis fünf Jahre dauert.

Etwa zwei Drittel der Ausbildung besteht aus Software-Engineering. Andere Inhalte sind Modellierung, Analyse, Abstraktion. "Unsere Schüler lernen Software zu entwickeln, die dem Zeitgeist entspricht und dementsprechend Globalisierung und Nachhaltigkeit abbildet", sagt Senges. Die Software sei elegant im Sinne von Clean-Code.

Dass die 42-Absolventen in Entwicklerteams mit konventionell ausgebildeten Informatikern passen, daran besteht für Senges kein Zweifel, weil sie sich auf Teams pragmatisch und empathisch einstellen könnten. Das lernten sie in ihrer Ausbildung. "Ob sie allerdings in hierarchisch-klassischen Strukturen glücklich werden, hängt davon ab, wie hoch die Toleranz, was die Aufgabe und wie der Chef ist", sagt Senges. Auch bei VW, so ist er überzeugt, gibt es viele Teams, bei denen progressiv gearbeitet wird und in denen die 42er glücklich sein können.

Lehmann hat schon heute Pläne für übermorgen: Sein erstes Praktikum will er bei VW machen, den zweiten theoretischen Teil an einer Schule in Ausland mit dem Schwerpunkt Software-Engineering Automotive. Autos interessieren ihn, auch VW als Arbeitgeber. Die nächsten Kurse beginnen im Januar und März 2021. Bewerben kann man sich jetzt schon. Bis zu 600 Studenten sollen ab dem kommenden Jahr in Wolfsburg ausgebildet werden.

(axk)