CO₂-Neutralität: Zwei "verlorene" Jahre im Kampf gegen den Klimawandel

Um 2050 weltweit Netto-Null-Emissionen zu erreichen, müssen laut einer Studie vor allem die westlichen Industriestaaten und China schneller klimaneutral werden.

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(Bild: nicostock/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Im Einklang mit Äußerungen von UN-Generalsekretär António Guterres auf dem Weltklimagipfel voriges Jahr in Glasgow warnt die norwegische Klassifikationsgesellschaft DNV in ihrem Ausblick auf die Energiewende 2022 vor der "Alarmstufe Rot" für die Menschheit. Der Dienstleister für technische Beratung, Zertifizierungen und Risikomanagement im weltweiten Energiesektor prognostiziert demnach, dass sich die Erde bis 2100 um 2,2 Grad erwärmen wird und die Pariser Klimaziele angesichts des aktuellen Kurses nicht zu halten sind.

Die weltweiten CO₂-Ausstöße "müssen jedes Jahr um 8 Prozent gesenkt werden", um bis 2050 die Klimaneutralität zu erreichen, heißt es in der jetzt veröffentlichten Studie mit einer Sonderanalyse zu Wegen zur CO₂-Neutralität. 2021 seien die Emissionen jedoch steil angestiegen und hätten sich dem Allzeithoch vor der Corona-Pandemie genähert. 2022 würden die weltweiten Treibhausgas-Ausstöße nur um 1 Prozent zurückgehen, schätzen die Forscher. "Das sind zwei 'verlorene' Jahre" im Kampf gegen die Klimakrise.

Um 2050 weltweit die Emissionen auf netto null zu drücken, müssen bestimmte Regionen und Sektoren laut den Experten viel schneller auf dieses Ziel ausgerichtet werden. Die Industriestaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) müssten bis 2043 klimaneutral werden und danach sogar "Netto-Negativ-Emissionen erreichen". Dabei werde auch die Abscheidung und Beseitigung von Kohlenstoff eine Rolle spielen. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, Deutschland bis 2045 CO₂-neutral zu machen.

China müsse seine CO₂-Ausstöße bis 2050 auf null reduzieren – nicht wie bisher geplant bis 2060, fordern die Verfasser.   Bereiche wie die Stromerzeugung sollten vor 2050 klimaneutral werden, während andere Sektoren wie das Bauwesen und die Luftfahrt noch nicht so weit seien. Die Seefahrt müsse ihre Emissionen bis 2050 um 95 Prozent senken. 

Eine bessere Nachricht: Dem aufzeigten Pfad zufolge werden in Ländern mit hohem Einkommen schon ab 2024 und in Staaten mit mittlerem und niedrigem Einkommen von 2028 an keine neuen Öl- und Gasvorkommen mehr benötigt. Die Investitionen in erneuerbare Energien und Smart Grids müssten dafür aber viel schneller steigen: Die Investitionen Solar-, Wind- und Wasserkraft sollten sich verdreifachen, die in Stromnetze in den nächsten zehn Jahren um mehr als 50 Prozent steigen. 

Die DNV hält zugleich ein viel stärkeres Eingreifen der Politik für nötig: "Das gesamte politische Instrumentarium muss ausgepackt werden, einschließlich höherer Kohlenstoffsteuern und -subventionen, strengerer Gebote, Verbote und finanzieller Anreize". Nur so könnten die Potenziale der Erneuerbaren genutzt und fossile Brennstoffe ersetzt werden. Dies erfordere "intelligentere Regulierung und Standards". Zuvor hatten die Norweger etwa auf die noch kaum ausgeschöpften Chancen von mehr "Flexibilität auf der Nachfrageseite" beim Energieverbrauch etwa durch als Speicher dienende E-Autos hingewiesen.

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Generell verstärkten der aktuelle Fokus auf die Versorgungssicherheit und die hohen Energiepreise den Unterschied im Tempo der Dekarbonisierung zwischen Europa und dem Rest der Welt, arbeiten die Berater heraus. Die EU könne mit dem Green Deal als Vorreiter der Energiewende angesehen werden. Sie setze vermehrt auf die Erneuerbaren und Energieeffizienz, um ihre Unabhängigkeit zu erhöhen. Der europäische Gasverbrauch werde als Folge des Angriffskriegs Russland auf die Ukraine drastisch zurückgehen.

Im Vergleich zur vorjährigen Prognose geht die DNV so nun davon aus, dass Europa 2050 gegenüber dem aktuellen Stand nur noch fast die Hälfte der Erdgasmenge verbrauchen wird. Der fossile Brennstoff werde dann 10 Prozent des europäischen Energiebedarfs decken, während es heute 25 Prozent sind.

In Ländern mit niedrigerem Einkommen, in denen die Kosten der Haupttreiber der Energiepolitik sind, beobachten die Forscher einen anderen Trend. Hohe Energie- und Lebensmittelpreise erschwerten dort Versuche, von Kohle auf Gas umzusteigen. Investitionen in CO₂-sparende Techniken würden heruntergefahren. So werde etwa der Anteil von Gas am Energiemix des indischen Subkontinents in den nächsten fünf Jahren von 11 auf 7 Prozent sinken, während der Anteil von Kohle steige.

Insgesamt stellen der Inflationsdruck und Unterbrechungen von Lieferketten laut der Analyse "eine kurzfristige Herausforderung für das Wachstum der erneuerbaren Energien dar". So müsse etwa der "globale Meilenstein für Elektrofahrzeuge" – der Zeitpunkt, an dem deren Anteil an den Neuwagenverkäufen 50 Prozent übersteigt – um ein Jahr auf 2033 verschoben werden. Die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise würden jedoch letztlich durch die sinkenden Ausgaben für die Erneuerbaren und die längerfristig steigenden Kohlenstoffkosten aufgewogen.

Laut der DNV-Prognose wird der Anteil nicht fossiler Energien am globalen Energiemix bis 2050 erstmals leicht über 50 Prozent liegen. Die Stromerzeugung werde sich insgesamt mehr als verdoppeln und ihr Anteil am globalen Energiemix in den nächsten 30 Jahren von 19 auf 36 Prozent steigen. Die Solar- und die Windenergie sei an den meisten Standorten bereits die billigste Form der Stromerzeugung. Bis 2050 werde sie um das 20- beziehungsweise 10-fache wachsen und mit einem Anteil von 38 respektive 31 Prozent die Stromerzeugung dominieren.

Die Sorge um die Versorgungssicherheit lasse auch das Interesse an der Kernenergie wieder aufleben, ist den Beobachtern nicht entgangen. Der diesjährigen Ausblicke zeige daher hier einen leichten Aufwärtstrend mit einem Wachstum von 13 Prozent gegenüber dem heutigen Stand bis 2050. Der Anteil der Atomenergie am Strommix werde jedoch bis dahin von aktuell 10 Prozent auf 5 Prozent sinken. 

(tiw)