Dr. Data – was Künstliche Intelligenz in der Medizin kann

Seite 2: 1400 Schlaganfälle

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Diese Do-it-yourself-Taktik hat Dietmar Frey an der Charité auch im Sinn. Seine Rechner haben bereits Daten von über 1400 Schlaganfällen geladen. Es sind echte Patientenschicksale, anonymisiert und heruntergebrochen auf Formeln. Es geht unter anderem um Angaben zu Alter, Geschlecht, Gewicht, Rauchgewohnheiten, Vorerkrankungen, genommenen Medikamenten und Laborwerten. Freys Plan ist es, diesen Datenschatz abrufbereit in der Notaufnahme zu haben, wenn ein neuer Patient mit akutem Schlaganfall eingeliefert wird.

10 bis 15 Minuten blieben heute im Schnitt für die Diagnostik in der Rettungsstelle, weitere 10 für eine Entscheidung über eine Therapie, berichtet Frey. Er möchte, dass künftig direkt nach der Aufnahme eines Patienten der Rechner im Hintergrund analysiert, ob es vergleichbare Ausprägungen eines Schlaganfalls gab, wie verfahren wurde und ob das half. Die Ergebnisse soll der Computer binnen Minuten ausspucken – damit die behandelnden Ärzte die beste Therapie für den Patienten finden können, der gerade vor ihnen liegt.

"Der Mehrwert wäre das Abwägen von individuellem Nutzen und Risiko", erläutert der Neurochirurg. "Ein Arzt hat heute weder die Zeit noch die Kapazitäten, in der Notaufnahme Aktenberge für Vergleiche zu wälzen. Und im Kopf haben und berechnen kann er das alles schon gar nicht."

Ginge sein Plan in der klinischen Erprobung auf, könnte das Programm auch anderen Kliniken nutzen. Es ist an EU-Forschung angedockt, könnte über Deutschland hinaus strahlen. Frey denkt über eine Ausgründung nach, beschäftigt sich mit Datenschutz. Es könnte eine große Nummer werden – aber wer weiß das schon. Weltweit gibt es kaum Abstimmungen, wer woran forscht. Es herrscht Wettbewerb.

In Essen baut Mediziner Nensa seit mehreren Jahren mit einem IT-Konzern Bilddatenbanken auf: CT- und Röntgenbilder von Lungenleiden samt klinischen Daten. "Wir haben immer wieder neue Fälle", sagt er. "Dann gucken wir uns die neuen Bilder dazu an und denken manchmal: Puh, was ist das denn jetzt?" Früher hätten Ärzte elektronische Lehrbücher angezapft. "Dafür mussten wir dieses Bild in Worte fassen. Das ist bei seltenen Lungenerkrankungen echt schwierig."

Mit der KI-Datenbank läuft es anders. "Wir können jetzt in einer neuen Aufnahme Bereiche markieren und den Computer suchen lassen." Gab es schon mal einen ähnlichen Fall? "Und wenn ja, zeige mir dieses Vergleichsbild." Und weil mit dem gespeicherten Fall immer eine Diagnose verbunden sei, gebe es direkt einen Link zur Fachliteratur. "Wenn da dann steht: Tritt ausschließlich bei Frauen auf, aber mein Patient ist ein Mann – dann bin ich auf dem Holzweg", sagt Nensa. Aber auch das sei eine Info.

"Solche KI ist für mich die erste Welle von Tools, die den Arzt entlastet", resümiert er. "In fünf bis zehn Jahren wird es mehr von diesen Tools geben. Der Beruf des Arztes wird sich verändern – mehr in Richtung Zusammenführen und Interpretieren von Daten", mutmaßt Nensa. Vielleicht würden Radiologen und Pathologen mal eine Disziplin. "Oder es gibt Mr und Mrs Superdiagnostics."

An der Berliner Charité sieht Physiker und Pathologe Frederick Klauschen KI als wesentlichen Bestandteil der Diagnostik, aber nicht als Paradigmenwechsel. Sie helfe Ärzten, sich auf schwierige Fragestellungen zu konzentrieren. "Das Qualitative kann der Pathologe besser, das Quantitative kann der Computer besser." Mit Blick auf die Überalterung der Gesellschaft werde diese Arbeitsteilung unumgänglich.

Heute weiß man, dass Ärzte verschiedener Fachrichtungen in einer Tumorkonferenz weisere Entscheidungen für Krebspatienten treffen können als einzelne Experten nur einer Disziplin. Können gut gefütterte Computer bald so etwas wie eine Zweitmeinung in einer solchen Runde beitragen? Und wäre das unheimlich?

"Was es für viele ein wenig unheimlich macht, ist, dass man bei manchen dieser Systeme die Regeln nicht mehr direkt ablesen kann", sagt Bioinformatiker Brors in Heidelberg. "Es ist nicht mehr nachvollziehbar für jemanden von außen, warum der Computer jetzt eine bestimmte Entscheidung trifft." Im Prinzip sei das egal, solange die Entscheidung zuverlässig sei. "Aber das macht Ärzte skeptisch. Das ist wie eine Blackbox. Sie können nicht mehr überprüfen, ob das plausibel ist."

Und noch gibt es Grenzen bei KI. Eine Maschine könne bisher zum Beispiel regelbasiertes Wissen aus Leitlinien reproduzieren. "Was sie noch nicht hat, ist Kreativität oder Intuition", sagt Brors. Menschen hingegen könnten auch mal um die Ecke denken. (anw)