Fotofestival Worpswede – Krisen der Gegenwart an einem Ort mit Vergangenheit

Mit der RAW Photo Triennale eröffnet heute in Worpswede ein Fotofestival, das sowohl mit seinem klugen Konzept als auch einer Fülle an Fotografinnen überzeugt.

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Harcourt Road, aus der Serie Clean Hong Kong Action, 2019

(Bild: © Siu Wai Hang)

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Vom 18. März bis 11. Juni 2023 findet die RAW Photo Triennale statt. Es ist die vierte Ausgabe des Fotofestivals (nach 2015, 2016 und 2020) in dem Künstlerdorf Worpswede, 20 Kilometer nördlich von Bremen.

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Das Oberthema des diesjährigen Festivals lautet "Turning Point. Turning World". Es befasst sich mit den drängenden Fragen- und Problemstellungen unserer Gegenwart – von politischen Protesten und Revolutionen, über Migrations- und Identitätsfragen bis hin zu Umweltproblemen. Das Festival zeigt zahlreiche fotografische Arbeiten mit politischen, sozialen oder ökologischen Themen. Es geht um Veränderungen, Brüche und Krisen, die allgegenwärtig sind und unsere Zeit ausmachen. Das Thema drängt sich auf, denn die Welt scheint sich an einem Turning Point zu befinden.

Das kuratorische Team aus drei Kuratorinnen und einem Kurator hat gemeinsam ein Ausstellungskonzept entwickelt, das vier Hauptausstellungen, an vier unterschiedlichen Orten in Worpswede, zu folgenden Schlüsselbegriffen präsentiert:

#RISK – politische und gesellschaftliche Themen wie Proteste, Klimawandel, Migration und Krieg werden hier gezeigt (Ort: Große Kunstschau Worpswede)

#FAKE – Wahrhaftigkeit und Täuschung in der Fotografie – die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit werden in dieser Ausstellung verhandelt (Ort: Worpsweder Kunsthalle)

#EGO – Fragen nach Identität und Zugehörigkeit werden hier mit fotografischen Selbst- und Fremdbildern ausgehandelt (Ort: Haus im Schluh)

#NEXT – Umwelt – Natur – Zukunft. Wie können fotografische/künstlerische Arbeiten die großen sozio-ökologischen Probleme ansprechen und zeigen? (Ort: Barkenhoff, Heinrich Vogler Museum)

In den vier Hauptausstellungen sind insgesamt 22 fotografische beziehungsweise künstlerische Positionen aus 14 verschiedenen Ländern zu sehen, manche davon zum ersten Mal in Deutschland. Darunter befinden sich insgesamt 17 Fotografinnen und sieben Fotografen. Somit ist das ganze Festival im Vergleich zu den Vorjahren nicht nur konzeptioneller, sondern auch viel internationaler und weiblicher geworden.

RAW 2023 Besuch

Eröffnungswochenende am 18./19. März 2023

RAW Festivalwochen 18. März bis 2. April

Jahresthema: Turning Point.Turning World

Vier Ausstellungen an vier unterschiedlichen Orten in Worpswede zu den Schlüsselbegriffen:

#EGO (Haus im Schluh)

#FAKE (Worpsweder Kunsthalle)

#NEXT (Barkenhoff, Heinrich Vogler Museum)

#RISK (Große Kunstschau Worpswede)

Sie laufen alle vom 18. März bis zum 11. Juni

Des Weiteren wird es als RAWPLUS fünf weitere Sonderausstellungen geben zu den Schlüsselbegriffen:

#FOTOBOOKS (Philine-Vogler-Haus, Tourist-Information, vom 18. März bis 2. April)

#THANKS (Marcusheide, vom 18. März bis 11. Juni)

#REVERSIBILITY (Galerie Altes Rathaus, 18. März bis 1. Mai)

#WE_LOVE (Neuer Worpsweder Kunstverein, vom 1. Mai bis 11. Juni)

#PASSAGE Durchgang Markusheide-Berkenhoff, vom 18. März bis 11. Juni)

Das detaillierte Programm zu den Veranstaltungen der Raw-Festival-Wochen finden Sie hier. Es umfasst Gesprächsrunden, Rundgänge durch die Ausstellungen, Vorträge, Filmvorführungen sowie am 1. und 2. April die abschließende Fotomesse Worpswede.

Tickets: 19 € (ermäßigt 12,50 €), Festvalpass 35 € (ermäßigt 25 €)

Kontakt: Touristik Information Worpswede, Bergstraße 13, Tel.: 0 47 92 / 93 59 20

Wir waren zu einer Vorbesichtigung vor Ort und möchten Ihnen zur Eröffnung am 18. März unsere Highlights aus den vier Ausstellungen vorstellen:

Harcourt Road, aus der Serie Clean Hong Kong Action, 2019

(Bild: © Siu Wai Hang)

Zum Leitbegriff #RISK hat Kuratorin Julia Bunnemann sieben verschiedene Fotografinnen und Fotografen ausgewählt. Das Thema Risiko ist normalerweise männlich behaftet, hier sind es jedoch, bis auf eine, nur weibliche Positionen, die sich dem Thema fotografisch widmen – einige davon werden zum ersten Mal ausgestellt. Themen wie Migration, bewaffnete Konflikte und politische Proteste spielen in der Ausstellung eine entscheidende Rolle.

Eine besonders interessante Position stellt die Arbeit Clean Hong Kong Action (2019) des Hong Konger Fotografen Siu Wai Hang dar. Er hat 2019 die großen demokratischen Proteste in seiner Heimatstadt fotografisch dokumentiert. Da für viele Demonstrierende das fotografische Bild – vor dem Hintergrund des autoritären chinesischen Regimes – jedoch zur Denunziation führen kann, entschied er sich alle Gesichter auf seinen Bildern auszuschneiden, um die Menschen zu schützen. Er druckt seine Fotos großformatig auf Acryl und schneidet die Gesichter fein säuberlich mit einem Laser aus.

Diese Arbeiten sind ein Highlight der #RISK-Ausstellung, da sie nicht nur visuell spannend sind – die weißen Punkte geben den S/W-Fotos nicht bloß eine graphisch-ästhetische Dimension, sondern sie sind auch medienkritisch. Denn Hangs Fotos fragen, wie Fotografie diesem politischen Kontext überhaupt künstlerisch angemessen begegnen kann.

Untitled #23, aus der Serie Traces, 2015–2017

(Bild: © Weronika Gęsicka und Jednostka Gallery)

Auch wenn man sofort an Fake-News und den amerikanischen Ex-Präsidenten denkt, geht es hierbei um etwas anderes. Kurator Wolfgang Zuborn widmet sich mit #FAKE dem zeitgenössischen Menschen und wie dieser immer mehr Bilder konsumiert beziehungsweise konsumieren muss. Obwohl Fotografie ein Abbild der Wirklichkeit sein soll, ist sie zugleich immer auch konstruiert. Es gibt zahlreiche Einflüsse auf unsere Wirklichkeit – soziale, kulturelle, politische, psychische und so weiter. So können Fotos zugleich "Fake" produzieren, aber auch "Fake" entlarven. Letztendlich geht es um die Verarbeitung von Bildern und um Medienkompetenz

Besonders schön und unterhaltsam zeigt sich das in den Bildern der polnischen Fotografin Weronicka Gęsicka. Für ihre Serie Traces (2015 – 2017) hat sie alte Fotografien der 40er- und 50er-Jahre aus einer Bilddatenbank erworben. Es sind ganz alltägliche Szenen: Familienfotos, Schnappschüsse oder Urlaubsbilder. Was hinter den Bildern steckt, wer die Personen sind und ob sie gestellt sind, das wissen wir alles nicht. Zusätzlich bearbeitet Gęsicka die Fotos noch weiter, sodass zum Beispiel Personen in einem anderen Kontext auftauchen oder Gesichter dupliziert werden. Schlussendlich weiß der Betrachter nicht mehr, was echt und was falsch ist. So entsteht in und durch die Bilder eine eigenartige Zwischenwelt zwischen Wahrhaftigkeit und Fiktion.

Bild aus der Serie Shenasnameh, 2010–2016

(Bild: © Amak Mahmoodian)

Für die Ausstellung #EGO haben sich die beiden Kuratorinnen Daria Bona und Cale Garrido zusammengetan. Das Resultat ihrer Zusammenarbeit ist eine Fotoschau, die sich dem Thema Identität widmet und fotografisch danach fragt, wie sich das Leben zwischen Kulturen und Orten auf die persönliche Entwicklung ausübt.

Das Highlight der #EGO-Ausstellung ist die Arbeit von Amak Mahmoodian. Die iranische Künstlerin hat sich in Shenasnameh (2016) mit dem Frauenbild und seiner politischen Kontrolle auseinandergesetzt. Im Iran muss das Bild der offiziellen Geburtsurkunde (Shenasnameh) alle zehn Jahre erneuert werden. So fiel der Künstlerin bei einem dortigen Bürgeramtstermin einerseits auf, dass ihr Foto dem ihrer Mutter zunehmend ähnlicher wurde, und andererseits, dass diese Porträts mit Kopftuch etwas verstecken sollen, was dem Mullah Regime nicht gefällt, nämlich Weiblichkeit.

Mahmoodian hat für ihre Serie offizielle Passbilder sowie Fingerabrücke anderer Frauen aus dem Iran gesammelt und die passfotogroßen Formate nebeneinander gehängt, sodass man bei genauem Hinsehen die Unterschiedlichkeit und Individualität der Frauen erkennt. Sie zeigt zudem zwei von den Behörden wegen Haarsträhnen im Gesicht oder zu starker Schminke abgelehnte Passbilder. So unterläuft die Künstlerin das rigide Bilderregime der Mullahs. Sie zeigt, wie wichtig es ist, weibliche Positionen sichtbar und weibliche Stimmen gegen das Regime hörbar zu machen.

(Bild: © Alex Grein und Galerie Gisela Clement, Bonn )

Auch für die #NEXT-Ausstellung haben Daria Bona und Cale Garrido als Kuratorinnen zusammengearbeitet. Hierbei geht es ihnen um die einfache, aber entscheidende Frage nach der Zukunft – Was kommt als nächstes? Gerade vor dem Hintergrund der drohenden Klimakatastrophe spielen Umwelt/Natur sowie sozioökologische Fragestellungen in der Ausstellung eine zentrale Rolle. Wie können Emotionen bei diesem abstrakt-wissenschaftlichen Thema etwas bewegen? Wie können Fotografinnen und Fotografen das Thema künstlerisch behandeln?

Eine sehr interessante Position ist dabei die Videoarbeit der deutschen Künstlerin Alex Grein: Sie hat Präparate unterschiedlicher Schmetterlinge auf ein Tablet-Display gelegt, Google-Maps unterlegt und beides abgefilmt. Auf diese Weise kann der Betrachter dem Schmetterling auf der Reise von einem willkürlichen Startpunkt bis zurück in sein Heimatgebiet, wie beispielsweise Peru, visuell folgen. Auf dieser Videoreise sieht man etwa Braunkohlegebiete im Rheinland, Gewächshäuser in Südspanien oder andere vom Menschen gemachte und zerstörte Landschaft – unterschiedliche 2D- und 3D-Ansichten wechseln sich ab.

Grein zeigt mit ihrer Videoarbeit auf eine visuell sehr interessante Weise, wie der wissenschaftliche Kolonialismus Europas zurückverfolgt werden kann, aber auch, welche Auswirkungen die andauernde Ausbeutung von Natur und Umwelt durch den Menschen hat.

Weitere Eindrücke von der RAW Photo Triennale in Worpswede finden Sie in unserer Bilderstrecke:

4. RAW Triennale Worpswede – ein Ausstellungsrundgang (25 Bilder)

Mit der vierten Ausgabe der RAW Photo Triennale steht der norddeutsche Künstlerort Worpswede wieder ganz im Zeichen der Fotografie. (Bild: Peter Nonhoff-Arps)

(vat)