Interne Aufnahmen enthĂĽllen: Bahn streicht bei der Digitalstrategie
Auf einer internen Veranstaltung verkündet die Bahn Einschnitte bei dem Projekt, das die Digitalisierung voranbringt. Das sorgt für Jobängste und Unsicherheit.

(Bild: Patrick Poendl/Shutterstock.com)
Das Projekt "Digitale Schiene Deutschland" (DSD) der Deutschen Bahn soll den Zugverkehr in Deutschland wieder auf die Überholspur bringen. Seit Jahren hat die Deutsche Bahn mit einem maroden Schienennetz, veralteten Stellwerken und unpünktlichen Zügen zu kämpfen. Unter dem Dach von DSD versammelt die Bahn-Infrastrukturtochter DB InfraGO ihre Digitalisierungsprojekte und zeichnet auf der Projektwebsite ein Zukunftsbild eines modernen und digitalisierten Schienennetzes. Auch die Politik in Berlin war in den vergangenen Jahren bereit, in die Infrastruktur und die Digitalisierungspläne zu investieren.
Doch innerhalb des DSD-Projekts rumort es schon länger, wie Brancheninsider im Gespräch mit heise online seit Monaten berichten – auch im Zusammenspiel zwischen Bahn und Bahnindustrie. Jetzt kommt es bei zwei Teilprojekten der Digitalen Schiene zu größeren Umstrukturierungen. heise online liegt die Audioaufnahme einer internen Veranstaltung der Deutschen Bahn vom 20. März vor. Darin kündigte der bisherige Leiter der Abteilung Digitalisierung Bahnsystem (DBS) an, dass der Teilbereich bis zum 1. August 2025 in der bisherigen Form aufgelöst wird. Diese Nachricht sorgt in der Belegschaft der Abteilung für erhebliche Verunsicherung. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befürchten, dass ihre Stellen in Gefahr sind, und kritisieren, dass die Konzernführung betriebsbedingte Kündigungen nicht ausschließe. Bisher hat die Bahn stets öffentlich betont, solche Schritte vermeiden zu wollen – selbst bei dem mittelfristig geplanten Abbau von 30.000 Stellen.
Auf Nachfrage von heise online bestätigte eine Sprecherin der Deutschen Bahn zwar erhebliche Einschnitte bei der Digitalstrategie, betonte jedoch, dass nicht das gesamte Projekt "Digitale Schiene Deutschland" aufgelöst werde. Es finde vielmehr derzeit eine Überprüfung und Priorisierung einzelner Teile statt. "Der Bereich Digitale Schiene wird deshalb nicht aufgelöst, sondern einzelne Entwicklungen werden repriorisiert und anders organisiert", so die Sprecherin wörtlich. Die Deutsche Bahn bemühe sich, "betroffene Mitarbeiter möglichst an anderer Stelle in den eigenen Reihen einzusetzen". Gespräche mit der Personalabteilung und dem Betriebsrat sollen diese Woche stattfinden.
Zukunftsprojekte trotz Stellenabbau?
Unter dem Begriff "Digitales Bahnsystem" (DBS) verstehen die Projektbeteiligten jene Systeme, die im zweiten oder dritten Schritt ausgerollt werden sollen, nachdem die Basis – die Leit- und Sicherungstechnik, also unter anderem Stellwerke, Signale und Bahnübergange – auf den neuesten Stand gebracht worden sind.
Dazu gehört die Einführung des European Train Control System (ETCS) Level 2, digitale automatische Kupplungen (DAK) sowie Lösungen für teilautomatisiertes Fahren (GoA2) und vollautomatisiertes Fahren (GoA4). Diese Techniken galten bisher als essenzieller übernächster Schritt für die Modernisierung des Schienenverkehrs, weil sie es erlauben, das bestehende Schienennetz besser auszulasten und Personal zu sparen.
Auf der Streichliste steht bis auf Weiteres das Projekt Advanced Digital Infrastructure (ADI). ADI soll die bisher feste Einteilung des Schienennetzes in Blockabschnitte durch flexible Steuerung ersetzen. Ein Block ist, vereinfacht ausgedrückt, der Abschnitt zwischen zwei Signalen. Fährt ein Zug in einen solchen Block ein, darf kein anderer Zug dieses Signal passieren. Er wird erst freigegeben, wenn ein Achszähler am nächsten Signal die letzte Achse registriert hat.
Solange Menschen die Züge fahren, müssen die Blöcke ausreichend groß sein, damit ausreichend Zeit für Reaktionen bleibt. Sobald Computer steuern und Züge mit einem Pendant zum Abstandstempomat im Auto ausgestattet sind (Moving Blocks), können die Züge näher zusammenfahren, was mehr Kapazität auf der Strecke schafft. Doch daraus wird vorerst nichts: ADI habe sich, so die Sprecherin, bei einer Überprüfung als kostspielig und kompliziert zu migrieren erwiesen. Außerdem ergebe sich der Nutzen "erst in weiterer Zukunft".
Ebenfalls neu strukturiert wird die Entwicklung des voll automatisierten, fahrerlosen Zugbetriebs GoA4. Ganz fallen lassen will die Deutsche Bahn die Idee jedoch nicht. Auf Anfrage erklärte das Unternehmen vielmehr, das fahrerlose Fahren solle in kleineren, besser migrierbaren Schritten fortgesetzt werden, wobei Umfang und Personal angepasst würden.
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Was passiert mit Verträgen und Personal
Auf die in der internen Veranstaltung geäußerte Warnung, die DB könne aufgrund der Umstrukturierung möglicherweise bestehende Verträge nicht erfüllen, entgegnet die Bahn auf Nachfrage: "Wir werden die großen Projekte weiterführen und vertragskonform beenden. Bei kleineren europäischen Entwicklungsprojekten werden wir in den kommenden Monaten mit den Projektpartnern verhandeln, wie ein qualifiziertes Niederlegen der Arbeiten geplant werden kann."
In der Stellungnahme heißt es weiter, der Fokus auf "mehr Kapazität durch Technologie" werde verstärkt. Konkret hieße dies, die Entwicklung des Capacity & Traffic Management Systems (CTMS), das Schienenauslastungen durch Künstliche Intelligenz optimieren soll, und des teilautonomen Zugbetriebs GoA 2 "werden fortgesetzt, migriert und im Digitalen Knoten Stuttgart (DKS) zum Einsatz kommen". Durch die Konzentration auf diese Techniken erhofft sich die Bahn weitere Kapazität zur unmittelbaren Nutzung für wichtige Digitalisierungsschritte und deren schnellere Realisierung. "Wir gehen deshalb von einem positiven Effekt der Entscheidungen aus", so die Bahnsprecherin.
Derzeit hätte der "Ersatz störanfälliger Alt-Stellwerke" die höchste Priorität, so die Bahnsprecherin weiter. Im Rahmen des "Sofortprogramms Stellwerke" sollen bis 2027 200 alte Stellwerke durch elektronische (ESTW) oder digitale (DSTW) Stellwerke ersetzt werden. Dieses Detail in der Stellungnahme ist entscheidend, denn Digitale und Elektronische Stellwerke sind zwei grundverschiedene Techniken. In ESTWs laufen bereits Computer, und die Fahrdienstleiter arbeiten an Bildschirmen; diese Technik stammt aber aus den 1980er Jahren. DSTWs dagegen werden seit Jahren im Projekt Digitale Schiene unter dem Namen NeuPro spezifiziert und in ersten Testprojekten erprobt. Eine der Grundideen, von denen sich die Bahn Einsparungen bei der Beschaffung verspricht, ist die Interoperabilität von Komponenten über standardisierte Schnittstellen und Glasfaserkabel. Ein Stellwerk von einem Hersteller soll dann auch mit der Weiche eines anderen zusammenspielen, was in der Welt der ESTWs nicht gegeben ist.
Modernisierung dringend nötig
Die angekündigten Einschnitte verändern die Ausrichtung des Projekts DSD. In den Augen der Betroffenen scheint die Konzernführung bereit zu sein, wichtige Zukunftsprojekte aufzugeben und dabei auch vertragliche Verpflichtungen sowie Verlust von Expertenwissen in Kauf zu nehmen. Ob die Umstrukturierung und Neupriorisierung den erhofften Erfolg für die (nun nicht mehr so) ambitionierte Digitalisierungsstrategie der Deutschen Bahn bringt, bleibt abzuwarten.
Dass die Bahn modernisiert werden muss, ist unstrittig. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) bemüht sich seit einiger Zeit, Kritik zu entkräften, wonach die Bundesregierung und die Deutsche Bahn die Digitalisierung des Schienennetzes vernachlässigen. Im Haushalt 2024 wurden 2,3 Milliarden Euro bereitgestellt, weitere Mittel folgen 2025 durch eine Eigenkapitalerhöhung der Deutschen Bahn.
Trotz Berichten über Verzögerungen und technische Schwierigkeiten bei der Implementierung von ETCS und digitalen Stellwerken betont das Verkehrsministerium die Notwendigkeit der Modernisierung. Eine aktuelle Machbarkeitsstudie prognostiziert einen Finanzbedarf von acht Milliarden Euro aus Bundesmitteln bis 2029, bei einem Gesamtinvestitionsvolumen von 53,9 Milliarden Euro bis 2070. Dem stünde erwarteter wirtschaftlicher Nutzen von 102,5 Milliarden Euro gegenüber.
(vza)