Kommentar: Streits um Standards gehören zu Innovationen dazu

Standardstreits mögen für Konsumenten nervig sein – aber sie sind Bedingung für Innovation und wirtschaftlichen Erfolg.

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Streit um Standards gehören zu Innovationen dazu
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Eva Wolfangel

Schon mal Filme auf einer Flexplay-DVD geguckt? Oder Musik gehört auf einem Drahtton-Gerät? Wahrscheinlich nicht, denn beide Erfindungen blieben Episoden einer endlosen Folge kurioser Speichermedien. Heute scheint es uns befremdlich, dass man Mitte der Neunziger Leih-DVDs für eine schlaue Idee hielt, die sich nach 48 Stunden selbst zerstörten, damit man sie nicht mehr zurückgeben musste. Oder dass man Ende des 19. Jahrhunderts Töne auf einem Draht statt auf einem Band oder einer Scheibe aufzeichnen wollte.

Eva Wolfangel war gerade ein Jahr als Gastwissenschaftlerin am MIT und hat dort viel über die Rahmenbedingungen für Innovationen gelernt.

Und als das Allerbefremdlichste erscheint uns, dass Unternehmen trotz solcher Flops immer wieder versuchen, eigene Standards durchzusetzen. Was sich durchgesetzt hat, wirkt im Rückblick hingegen als logische Folge technischer Überlegenheit.

Aber so einfach ist es nicht. Letztlich laufen diese Standardstreits stets nach demselben Muster ab: Mehrere Unternehmen wollen gleichzeitig ein Problem lösen, und alle wissen: Am Ende setzt sich nur einer durch. Und alle wollen dieser eine sein. Es folgt eine für alle Seiten anstrengende Zeit des Konkurrierens. Aber es ist eine Zeit, in der wir Nutzer mitentscheiden können, was wir wollen.

TR 9/2020

Ein wichtiger Grund ist, dass sich nicht immer eindeutig abzeichnet, was als Nächstes kommt. Doch bevor klar ist, wie die technische Lösung für ein Problem aussehen könnte, ergibt es keinen Sinn, über Standards zu diskutieren. Gibt es eine technische Lösung und erhebt man sie zum Standard, wartet das nächste Problem: Bessere oder billigere Varianten haben kaum noch eine Chance.

Selbst wer schon so etwas wie einen Quasistandard gesetzt hat, ist vor Gegenangriffen nicht gefeit. Das zeigt sich beim Streit um Ladestecker für E-Autos. Die japanischen Hersteller Nissan und Mitsubishi dominierten Anfang der 2010er-Jahre den europäischen Markt. Damit war auch ihr Gleichstrom-Schnellladestandard Chademo alternativlos. Doch die großen europäischen und amerikanischen Konzerne wollten einen eigenen Standard namens CCS durchsetzen. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges E-Auto mit dieser Lademöglichkeit anzubieten hatten, gelang es ihnen, Deutschland und die EU zu überzeugen, CCS für neue Schnellladesäulen vorzuschreiben. Die Kunden bereits existierender japanischer Modelle konnten oft sehen, wo sie blieben. Und Tesla baute, völlig unbehelligt von allen Kooperationsgedanken, sein eigenes Schnellladenetz.

Ein klarer Fall von Ellenbogen-Industriepolitik zulasten der Allgemeinheit, könnte man meinen. Heute gibt es in Deutschland rund 3500 Ladepunkte mit CCS und 2400 mit Chademo. Das Geld für die vielen Doppelinstallationen ließe sich sicherlich sinnvoller in ein dichteres Ladenetz investieren. Doch auch hier belebt Wettbewerb das Geschäft: Japanische und chinesische Autobauer haben kürzlich den Nachfolgestandard Chademo 3.0 („ChaoJi“) vorgestellt, der bis zu 500 Kilowatt leisten soll. Für die kommende CCS-Generation sind hingegen nur 350 Kilowatt im Gespräch. Und hätte Tesla der Konkurrenz nicht mit seinem Alleingang Beine gemacht – wer weiß, wo das Gleichstromladen heute stünde?

Letztlich ist die Frage: Was sind die Konsumenten bereit mitzumachen? Das Nutzerverhalten ist der Grund, weshalb sich Apple bis heute erfolgreich weigern kann, sich einem Ladestandard für Mobiltelefone anzuschließen, und seinen Kunden stattdessen teure und proprietäre Lightning-Kabel verkauft. Wieso macht Apple das? Weil es funktioniert! (Und natürlich, weil die Politik es zulässt. Die EU hat sich auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie verlassen statt auf eine rechtlich verbindliche Vorgabe.) Apple argumentiert, Standards würden „Innovation behindern statt ermutigen“. Tatsächlich hatte Apple schon zwei Jahre vor der offiziellen Verabschiedung des USB-C-Standards das eigene Ladesystem mit seiner schlankeren Buchse vorangetrieben.

Solche Streits mögen nervig sein, sind aber eine Form angewandter Spieltheorie. Wenn es schiefgeht, ist die Schadenfreude groß. Aber ohne Risiko keine Innovation.

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