LKW-Maut: Schiedsgericht will technischen Innovationsprozess bewerten
Beim Streit über 5 Milliarden Euro Schadensersatz plus Zinsen soll es nicht mehr um den verpatzten Start des LKW-Maut-Systems gehen, sondern um die Frage, ob solch eine Innovation überhaupt planbar sein kann. Zur Bewertung werden die Maut-Verträge wieder interessant, die Wikileaks Ende 2009 veröffentlichte.
Die Auseinandersetzung vor einem Schiedsgericht zwischen dem Staat und dem Mautkonsortium Toll Collect über entgangene Mauteinnahmen verzögern sich, weil weitere Zeugen gehört werden müssen. Beim Streit über 5 Milliarden Euro Schadensersatz plus Zinsen soll es nicht mehr um den verpatzten Start des Maut-Systems gehen, sondern um die Frage, ob solch eine Innovation überhaupt planbar sein kann.
Nach zweiwöchigen Verhandlungen in Berlin hat sich das Schiedsgericht auf eine weitere Anhörung von Sachverständigen geeinigt, die wahrscheinlich im Mai 2011 stattfinden soll. Offenbar konnten die Rechtsvertreter des Bundesverkehrsministeriums als Auftraggeber und von Toll Collect als Auftragnehmer keine Einigung darüber erzielen, was beim Fehlstart der LKW-Maut im August 2003 als technische Fehler gewertet werden kann und was andererseits als Teil einer weltweiten Innovation als zwangsläufig komplizierter Startprozess bewertet werden muss.
Wie das Handelsblatt berichtet, will das Schiedsgericht herausfinden, inwieweit bei einer Innovation wie der LKW-Maut überhaupt vorhergesagt werden könne, wann ein solches System reibungslos funktioniere. Diese Frage sollen Sachverständige für Innovationsprozesse klären. Die Position des Schiedsgerichtes kommt dem Maut-Konsortium Toll Collect entgegen, wenn es nachweisen kann, dass alle Entwicklungsschritte beim Aufbau des Maut-System prozessgerecht zusammenliefen. Sollten alle Prozesse eingehalten worden sein, wäre der Fehlstart der Maut ein "innovationsbedingter Fehlstart", wie ihn jede komplexe technische Neuerung ereilen könnte, heißt es aus Verhandlungskreisen unter Verweis auf die Startschwierigkeiten beim elektronischen Personalausweis.
Sachverständige müssen nun klären, ob das deutsche Maut-System weltweit einmalig war und den Verhandlungspartnern im Jahre 2002 keine Erfahrungen mit einem vergleichbaren System vorlagen. Dabei spielen die Verträge zur Einrichtung und zum Betrieb des Maut-Systems eine wichtige Rolle. Diese Verträge zur LKW-Maut waren unter extrem großen Zeitdruck kurz vor der Bundestagswahl im Oktober 2002 unterzeichnet worden. Im Wahlkampf hatte vor allem die SPD und der damalige Kanzlerkandidat Gerhard Schröder die LKW-Maut als Beispiel für eine gelungene Innovationspolitik mit ökologischen Zielen gefeiert. Der Fehlstart der Maut Ende August 2003 verärgerte den Kanzler so sehr, dass er danach nur vom "System M." sprach.
Unmittelbar nach dem Fehlstart versprach der damalige Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD), die Maut-Verträge offenzulegen. Außerdem drohte er mit Kündigung der Verträge. Da die Bundesregierung jedoch an Toll Collect festhielt, das zum Januar 2005 ein neues System an den Start brachte, blieben die Verträge geheim. Erst die Veröffentlichung eines Teils des Mautverträge durch Wikileaks brachte Licht in das Dunkel. Vor dem Hintergrund der jetzt anlaufenden Bewertung des Innovationsprozesses durch das Schiedsgericht sind die Passagen von Bedeutung, in denen mehrfach betont wird, dass man "Off-the-Shelf"-Komponenten einsetzen werde und daher keine Schwierigkeiten zu erwarten seien. So heißt es im Angebot der Bietergemeinschaft ETC.de, aus der später die Firma Toll Collect hervorging:
"Die Bietergemeinschaft verfügt über alle notwendigen Kompetenzen zur Realisierung des Mauterhebungssystems. In diesem Abschnitt wird das vorgeschlagene Vorhaben mit anderen von den Unternehmen der Bietergemeinschaft durchgeführten Großprojekten ähnlicher Technologie vergleichen, um darzulegen, dass keine Risiken durch fehlende Voraussetzungen bzw. fehlende Erfahrung zu erwarten sind."
Zwei Vertragsseiten später heißt es: "Innovativ ist die Anwendung von Algorithmen zur Erkennung der Maut-Pflicht (Zahlungsentscheidung). Diese Verfahren sind deshalb von der Bietergemeinschaft frühzeitig entwickelt worden und funktionieren mittlerweile seit Jahren zufriedenstellend. Es gilt, diese Technologien in einem neuen Gesamtgerät zusammenzustellen."
Wie sich diese Behauptungen von jahrelang erprobten und zufriedenstellenden Off-the-Shelf-Komponenten mit der Annahme verbinden lässt, dass mit dem deutschen Maut-System eine weltweit einmalige Technologie mit entsprechendem Ausfallrisiko gestartet wurde, muss das Schiedsgericht klären.
Mittlerweile läuft das deutsche Maut-System weitgehend reibungslos, sieht man von den aktuellen Schneefällen ab, die das Ablesen von Nummernschildern erschweren. Erst am vergangenen Mittwoch beschloss das Bundeskabinett die Ausweitung der LKW-Maut auf vierspurige Bundesstraßen, um Mautpreller zu vergrämen. Diese Ausweitung betrifft rund 2000 Kilometer des gut 40.000 Kilometer großen Bundestraßen-Netzes und soll ab Mitte 2011 aktiv arbeiten. Durch die Ausweitung soll zusätzlich ein dreistelliger Millionenbetrag eingenommen werden, hofft man im Bundesverkehrsministerium.
Siehe dazu auch:
- Das Casino-Prinzip: Warum so viele Großprojekte scheitern, c't 23/04, S. 218
(jk)