Missing Link: Auch eine Geschichte der Öffentlichkeit - Habermas und der Maulwurf der Vernunft

Seite 2: Das Internet, ein egalitäres Publikum und die Konversationsteilnehmer

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Kurz zuvor, im Jahre 2007, sah die Lage für Habermas noch deutlich günstiger aus: "Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einem unreglementierbaren Austausch zwischen Partnern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren. Tatsächlich hat ja das Internet nicht nur neugierige Surfer hervorgebracht, sondern auch die historisch versunkene Gestalt eines egalitären Publikums von schreibenden und lesenden Konversationsteilnehmern und Briefpartnern wiederbelebt", heißt es in der Kampfschrift "Ach Europa" gegen den grassierenden Anti-Amerikanismus.

Die Habermassche Erzählung von einem Bürgertum, das sich selbst über den Zeitungsdruck eine politische Öffentlichkeit schuf, in der Fragen aller Art aufgeworfen und diskutiert werden können, verweist auf die 1962 veröffentlichte Schrift vom Strukturwandel der Öffentlichkeit. Mit ihr habilitierte sich Habermas in Marburg beim Marxisten Wolfgang Abendroth, nicht bei Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno, den Köpfen der Frankfurter Schule, für die Habermas kurzzeitig als Assistent arbeitete. Der öffentlichen Diskussion misst Habermas eine große Rolle zu, bis hin zum Recht auf Privatheit: [i]"Denn die Öffentlichkeit vermittelt nicht mehr eine Gesellschaft von Privateigentümern zum Staat, vielmehr sichert das autonome Publikum durch die planmäßige Gestaltung eines in der Gesellschaft aufgehenden Staates sich als Privatleuten eine Sphäre persönlicher Freiheit, Freizeit und Freizügigkeit."

Doch wem nützt die schönste Theorie, wenn die Praxis längst eine andere ist? Zum konstatierten Strukturwandel findet Habermas klare Worte, wenn er über die politische Lage der 60er Jahre in Deutschland schreibt: "Wie sehr die politische Öffentlichkeit zerfallen ist, bemisst sich an dem Grad, in dem es zur genuinen publizistischen Aufgabe der Parteien wird, so etwas wie Öffentlichkeit überhaupt erst herzustellen."

Die Massenmedien werden Werbeträger der Parteien, die mit "Wahlregisseuren" in den Wahlkampf ziehen und um den Führer oder der Führungsgarnitur eine "marktgerechte Aufmachung und Verpackung" besorgen. Anhand der Bundestagswahl 1957 zeigt Habermas, dass Westdeutschland alles andere als eine Demokratie ist, sondern mehr ein aufgeklärter Obrigkeitsstaat mit symbolischen Wahlen und über die Medien vermittelte Meinungen, die nicht diskutant im Für und Wider eines öffentlichen Gespräches gebildet worden sind.

Auch eine Form der Kommunikation.

(Bild: sdecoret / shutterstock.com)

Die Öffentlichkeit des Bürgertums ist keine mehr. "So wird ein als Publikum desintegriertes Publikum der Staatsbürger mit publizistischen Mitteln derart mediatisiert, dass es einerseits für die Legitimation politischer Kompromisse beansprucht werden kann, ohne andererseits an effektiven Entscheidungen beteiligt oder der Beteiligung auch nur fähig zu sein." Die Bewusstseinsindustrie hat die politische Öffentlichkeit zerstört.

In seinem Hauptwerk, der Theorie des kommunikativen Handelns, führt Habermas seine Idee des verständigungsorientierten Handelns einer Öffentlichkeit fort. Dank der Sprache können Menschen sich verständigen, wie in einer gemeinsam definierten Situation zu handeln ist. Dabei geht es den Beteiligten immer darum, zwei Risiken zu vermeiden, das Risiko der fehlschlagenden Verständigung und das Risiko des fehlschlagenden Handlungsplanes.

Die Grundlagen der Kommunikation, solche Risiken zu vermeiden, sind nach Habermas die Verständlichkeit, die normative Richtigkeit, die objektive Wahrheit und die subjektive Wahrhaftigkeit. Ausgehend von diesen Faktoren fällt das Urteil von Habermas über das das Internet negativ aus, da die Spezialisierung zu weit fortgeschritten ist, als dass diese Grundlagen noch eingehalten werden. Denn wegen der Spezialisierung sind sie zwar Eingeweihten verständlich, aber der Öffentlichkeit entzogen.

"Denken Sie an die spontan auftauchenden Portale, sagen wir: für hochspezialisierte Briefmarkenfreunde, Europarechtler oder anonyme Alkoholiker. Solche Kommunikationsgemeinschaften bilden im Meer der digitalen Geräusche weit verstreute Archipele – vermutlich gibt es Milliarden davon. Diesen in sich abgeschlossenen Kommunikationsräumen fehlt das Inklusive, die alle und alles Relevante einbeziehende Kraft einer Öffentlichkeit. Für diese Konzentration braucht man die Auswahl und kenntnisreiche Kommentierung von einschlägigen Themen, Beiträgen und Informationen", erklärte Habermas sein Plädoyer für den "guten alten Journalismus im Meer der digitalen Geräusche".