Social-Media-Regeln: Ruf nach Rundfunkrat fürs digitale Zeitalter
Es schade trotz Desinformation nur, Facebook & Co. für die Inhalte ihrer Nutzer verantwortlich zu machen, hieß es bei einer Konferenz europäischer Parlamente.
"Wir beobachten ein großes Aufkommen von Desinformation, Aggression, Bedrohung und Verleumdung im Internet", konstatierte die Berliner Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann am Montag beim Auftakt der virtuellen Konferenz der Präsidenten der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments. Trotzdem mahnte sie zur gesetzgeberischen Zurückhaltung: Die Politiker dürften große Online-Plattformen "nicht pauschal als Gefährdung der Demokratie betrachten".
Die Ursache für Hass und Hetze liege nicht in der digitalen Technik, nicht die algorithmischen Systeme von Facebook, YouTube, Twitter & Co. seien schuld daran, führte Hofmann aus. "Es sind Menschen, die Desinformation produzieren und verbreiten." 80 bis 90 Prozent entsprechender Inhalte auf soziale Medien würden von weniger als einem Prozent der Nutzer unter die Menge gebracht. Die Plattformen hätten so einen Verstärkereffekt.
"Überbringer schlechter Nachrichten" bestraft
Es gebe eine steigende Anzahl von Menschen, "die nach autoritärer Führung und eindeutigen Wahrheiten" verlangten, räumte die Projektgruppenleiterin beim Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) ein. Gerade Facebook und YouTube hätten sich "zu zentralen Infrastrukturen der Demokratie entwickelt". Die Betreiber "wissen mehr über politischen Präferenzen als jede andere Instanz". Um diese Macht zu begrenzen, bedürfe es eines rechtlichen Rahmens.
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Der gängige Regulierungsansatz in Deutschland und in Europa geht laut Hofmann aber nach hinten los. Kern des hiesigen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) und des geplanten europäischen Digital Services Act (DSA) sei es, die Betreiber in die Verantwortung für die Inhalte ihrer Nutzer zu nehmen. Damit bestrafe der Gesetzgeber aber nur "den Überbringer schlechter Nachrichten" und betrachte ihn pauschal "als Gefährdung der Demokratie".
Neue Machtposition geschaffen
Für die Co-Direktorin des von Google initiierten Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft liegt darin ein Paradox: Die Politik erweitere so just die Macht der Plattformen, indem sie diese "zu primären Regulierern der digitalen Kommunikation" erhebe. Die Betreiber könnten so die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs und Meinungsbildung verstärken. Die Regeln, die die kommunikative Macht der Medien begrenzen sollten, schafften ungewollt neue Positionen der Macht und deren Missbrauchs.
Hofmann erinnerte daher daran, dass das Prinzip der staatsfernen Medienregulierung eine lange Tradition habe. Es gelte nun, dieses für das digitale Zeitalter weiterzuentwickeln. "Wir benötigen einen Rundfunkrat für das digitale Zeitalter", plädierte die Professorin für die Schaffung von Aufsichtsgremien analog zu den öffentlich-rechtlichen Sendern. Diese müssten die Art und Weise, wie soziale Medien Öffentlichkeit schaffen, auf Demokratieverträglichkeit prüfen und zivilgesellschaftliche Gruppen systematisch einbinden.
Zugang zu den Daten nötig
Über eine digitale Charta sollten zudem auch kommerzielle Plattformen auf den Schutz von Grundrechten verpflichtet werden, betonte Hofmann. Wichtig sei es ferner, Wissenschaftlern und Aufsichtsgremien einen gesetzlichen Zugang zu Daten der Betreiber zu geben, damit diese analysieren und besser verstehen könnten, wie auf den Portalen Inhalte kuratiert und welche personenbezogenen Informationen darüber gesammelt werden. Es gehe also um eine stärkere Rechenschaftspflicht. Der Bundestag hat mit der NetzDG-Reform gerade eine solche Forschungsklausel eingeführt, die sich auf die Funktionsweise algorithmischer Filtersysteme bezieht.
Die großen Tech-Konzerne könnten ihre angehäufte Macht gar nicht bewältigen, gab die Präsidentin des italienischen nationalen Innovationsfonds, Francesca Bria, zu bedenken. Angesichts der von Social Media befeuerten Polarisierung stünden Parlamente vor einer Vertrauenskrise. Sie könnten unfähig werden, langfristig Ziele zu setzen und umzusetzen. Die Demokratie drohe damit, zum "Kollateralschaden" zu werden. Der Ort für Entscheidungen verschiebe sich zunehmend auf Serverfarmen und Führungsebenen von Unternehmen.
Bria sieht aber auch einen Hoffnungsschimmer. So biete die Technik auch hybride Ansätze, wie Bürger an Entscheidungsprozessen teilnehmen könnten, verwies sie nicht zuletzt auf die Erfahrungen aus der Corona-Krise. Nötig sei eine demokratisch bestimmte und geführte Technologie nach dem Motto "Big Democracy". Die in Barcelona zur Bürgerbeteiligung eingeführte Plattform Decidim etwa habe dafür gesorgt, dass 70 Prozent der dortigen lokalen Regierungsbeschlüsse auf Vorschläge der Bevölkerung zurückgingen. Sie verspreche sich daher viel von der Plattform für die Konferenz zur Zukunft Europas, die ebenfalls auf einer solchen Technologie "made in Europe" basiere und Werte wie die Privatsphäre schütze.
Polarisierung der Gesellschaft
Auf politischer Seite herrschte Skepsis gepaart mit Forderungen nach stärkerer Regulierung vor. Eine Demokratie nur mit Internet ohne reale Begegnung funktioniere nicht, meinte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Die Digitalisierung erleichtere es zwar, sich einzubringen. Damit einher gingen aber nicht automatisch mehr Partizipation und mehr Akzeptanz für die am Ende getroffene Entscheidung. Das Netz und soziale Medien forderten das Prinzip der demokratischen Repräsentation heraus, unterstrich der CDU-Politiker. Eine Algorithmen-gesteuerte Auswahl fördere Teilwahrheiten und polarisiere die Gesellschaft.
Rassismus und Antisemitismus regierten die neuen Medien, schlug Rainer Haseloff (CDU) als Präsident des Bundesrats in die gleiche Kerbe. Tweets in Echtzeit, hätten den Politik- und Informationsstil nicht immer zum Besseren verändert. Sie förderten oft eine Aggressivität, die in Bedrohung und Hass umschlage. Insgesamt hätten solche Trends die politischen Landschaften grundlegend verändert, erklärte der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts. Alte, traditionsreiche Parteien seien geschrumpft oder verschwunden. Gefördert werden müsse wieder ein Diskurs, "der die andere Meinung als Bereicherung ansieht". Sonst gehe das Grundvertrauen in die repräsentativen Institutionen verloren.
(axk)