Streit über Bonpflicht: Was das neue Gesetz überhaupt soll

Seite 2: Freie Fahrt für Betrüger

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Ergebnis war ein technischer Wettlauf der Steuerbetrüger: Zwar stellten die Finanzbehörden immer höhere Anforderungen an die Daten, die ein Gewerbetreibender mit seinem elektronischen Kassenbuch bereithalten musste – etwa mussten die Quittungen fortlaufende Nummern enthalten. Gegen einen simplen Sachverhalt kamen diese Maßnahmen aber nicht an: Elektronische Kassen können nach Belieben jede Art von Daten erzeugen. Sofern Hersteller und Eigentümer gemeinsame Sache machten, konnten die Steuerfahnder wenig ausrichten.

Der in Osnabrück verhandelte Fall zeigt die Waffen-Ungleichheit beim alltäglichen Steuerbetrug. So dauerte der Prozess sechs Monate und konnte nur einen Bruchteil der Fälle aufarbeiten. Dabei waren Gericht und Staatsanwalt auf die Kooperation des Angeklagten angewiesen, um den konkreten Steuerbetrug nachzuvollziehen.

Die Verhandlung brachte viele Details ans Licht. so hatte der 59-jährige Hauptangeklagte keinerlei Spezialwissen, um die Steuerfahnder auszutricksen. Laut eigenen Angaben hatte er sich das Programmieren selbst beigebracht. Dennoch konnte er die Steuerbehörden über Jahre hintergehen. So brachte er immer wieder Updates für sein Kassensystem heraus, die die Buchführung auf den ersten Blick tadellos erschienen ließen.

Doch mitgeliefert wurde auch eine versteckte Software, die den Gastwirten viele Optionen gab, ihre Einkünfte systematisch zu fälschen. So blieb ihnen etwa die Wahl, bestimmte Quittungen einzeln aus dem Kassenbuch zu löschen oder pauschal einen bestimmten Prozentsatz der Umsätze zu tilgen. Oder aber sie verbuchten Umsätze an einem fiktiven "Tisch 99" der anschließend in den Kassenbüchern nicht mehr auftauchte. Den Manipulationsmodus konnten die Gastwirte zum Beispiel mit Hilfe spezieller USB-Sticks öffnen, die für die Steuerfahnder keine digital verwertbaren Spuren hinterließen. Erst mit Hilfe des Angeklagten konnten die Fahnder zumindest Reste der Original-Buchführung wiederherstellen.

Den Steuerfahndern hingegen blieb im Wesentlichen nur ein Mittel, den Betrug festzustellen. Sie mussten immer wieder Testesser losschicken, deren Quittungen später mit den offiziellen Kassenbüchern verglichen wurden. Waren die entsprechenden Buchungen gelöscht, war eine nicht ordnungsgemäße Kassenführung wahrscheinlich. Ließen die Wirte jedoch den Beleg der Testesser im Kassenbuch unangetastet, blieb auch keine praktikable Chance den Steuerbetrug nachzuweisen.

Um langwierige Verfahren abzukürzen, enden solche Verdachtsfälle oft in einer Art Vergleich, bei dem das Finanzamt die tatsächlichen Umsätze schätzt und die Betroffenen die Differenz nachzahlen müssen.

Die zunehmenden Möglichkeiten der Manipulation setzten eine besondere Marktdynamik in Gang. Verschiedene Insider bestätigen, dass Kassenhersteller mit hohen Umsatzeinbußen zu rechnen hatten, wenn sie nicht zumindest einige Zugeständnisse an Steuerbetrüger machten. Diese musste allerdings nicht in Form eines kompletten Programms zu Steuerhinterziehungen geliefert werden.

Zuweilen nutzen Gastwirte etwa einen Trainingsmodus, bei dem Kellner kurzerhand als Auszubildende deklariert wurde, die nur probeweise fiktive Rechnungen ausstellen, um die Bedienung der Kasse zu erlernen. Oder sie drückten den Kunden Zwischenabrechnungen in die Hand, die dann später in der Kasse nie als vollendeter Umsatz eingespeist wurden. Öffentlich will sich aber kaum jemand über diese Tricks äußern.

Auch angesichts der immer weiter schrumpfenden Steuerverwaltungen war dies ein unbefriedigender Zustand: So forderte die Wirtschaftsstrafkammer Osnabrück den Gesetzgeber noch einmal dringend zu Nachbesserungen auf. Die waren zum Zeitpunkt des Urteils freilich schon beschlossen – allerdings noch nicht in Kraft.

Der Weg zum Ende 2016 verabschiedeten "Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen" war bemerkenswert lange. So hatte die Bundespolitik den alarmierenden Bericht des Bundesrechnungshofs über lange Zeit ignoriert. 2008 wurde die Bundesregierung aber schließlich tätig und beauftragte die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) mit der Erstellung eines manipulationssicheren Systems: Insika. Obwohl die ersten Praxisversuche bei Taxametern vielversprechend waren, landete das Projekt schließlich in einer Schublade. Auch ein entsprechender Gesetzentwurf wurde dem Bundestag nie zur Abstimmung vorgelegt.

Unterdessen wuchs der Druck immer weiter an. So bezifferte etwa die Europäische Kommission die Mindereinnahmen bei der Mehrwertsteuer für das Jahr 2011 alleine auf 193 Milliarden Euro. Immer mehr Nachbarländer setzten daher scharfe Kassenvorschriften durch. Auch mehrere Bundesländer drängten darauf, den Betrug, der auch ihre Haushalte immer stärker belastete, unter Kontrolle zu bekommen. So startete der jetzige SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans 2010 als nordrhein-westfälischer Finanzminister eine öffentliche Kampagne, um den Gesetzgeber endlich zum Handeln zu zwingen. "Es muss Schluss sein mit der Steuerhinterziehung an der Kasse", erklärte der Landesminister. "Wir werden nicht dabei zusehen, wie einige schwarze Schafe nach Feierabend ihre Abrechnungen manipulieren."