Suica in Tokio: Wie eine Bahngesellschaft das elektronische Geld erfand

Seit bald 25 Jahren kann man in Japans Hauptstadt per Chipkarte ÖPNV fahren, Dinge des täglichen Lebens kaufen und sein Budget im Blick halten. Wie kam es dazu?

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Suica-Benutzung an einem Aufladeautomaten

Suica-Benutzung an einem Aufladeautomaten, hier in Nagano.

(Bild: Terence Toh Chin Eng / Shutterstock)

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Inhaltsverzeichnis

In Japan gibt es ein altbekanntes Problem bei der Einführung moderner Technologie: Oft ist das Land deutlich früher dran mit neuen Verfahren als andere Weltregionen – und damit letztlich dann doch zu spät. Denn wenn andere Länder aufgeholt haben, ist ein Trend in Nippon oft schon vorbei und kommt erst später verwandelt aus den USA und Europa, manchmal auch China, zurück. Oder das Land hält sogar an alten Dingen fest, die einst top modern waren: Das Fax, das in Japan heute sogar noch wichtiger ist als bei deutschen Behörden, gehört dazu, oder auch frühe Internet-fähige Handys, die dann vom iPhone einge- und schließlich überholt wurden. Galapagos-Problem nennt man das dann gerne – und es ist für Westler ziemlich schwer zu verstehen.

Suica, das weltweit erste wirklich erfolgreiche elektronische Geld, könnte man in diese Ecke schieben, doch das wäre eigentlich gemein. Zwar hat sich das RFID-basierte System – der Name steht putzigerweise für "Super Urban Intelligent CArd" – nirgendwo sonst breit durchgesetzt, doch immerhin kann man es problemlos mit westlicher Technik weiterverwenden, auch wenn man nur kurz in Japan zu Besuch ist. Die Idee wird im kommenden Jahr sage und schreibe 25 Jahre alt. Die Bahngesellschaft JR East, die sich um wichtige Teile des Nah- und Fernverkehrs in und um die Metropolregion Tokio sowie verschiedene Shinkansen-Hochgeschwindigkeitsstrecken kümmert, suchte nach einer Möglichkeit, den Fahrkartenverkauf zu verbessern.

"Am Anfang wurde alles manuell von einer Person abgewickelt, die Papiertickets abstempelte", erzählt Hidehiko Kojou, der die Kundenerfahrung der Mobilversion von Suica samt dem Operationsbereich leitet, heise online. "Dann kamen Automaten auf, und die Leute begannen, Magnetkarten zu benutzen." Die echte Revolution kam im Herbst 2001 mit Suica in Zusammenarbeit mit dem Sony-Konzern. Das kontaktlose System, das man in Japan unter dem Begriff "IC Card" kennt (mitsamt entsprechendem Logo), basiert auf FeliCa, einem RFID-Smart-Card-System. "Wir selbst hatten vor der Einführung von Suica einige technische Untersuchungen durchgeführt", sagt Kojou, "Als dann IC-Chips aufkamen und die FeliCa-Technologie in Japan entwickelt wurde, begannen wir zu untersuchen, ob es möglich wäre, FeliCa für ein Touch-and-Go-System zu verwenden. Es gab auch einen Vorschlag von Sony, aber wir traten auch an sie heran, und so arbeiteten wir interaktiv zusammen, um es zu entwickeln." Tot ist FeliCa auch heute nicht, hat es etwa neben Japan nach Hongkong (als Basis der Octopus-Metrokarte) oder Indonesien (Jelajah) geschafft.

Tokio hat ein ungemein komplexes und vielfältiges Transportsystem. Es gibt allein zwei U-Bahn-Betreiber im Kernstadtgebiet, JR East mit zahllosen Linien, dazu einen bunten Strauß an privaten Bahngesellschaften, die wiederum ihre eigenen Netze betreiben – plus Zusatzsysteme wie Einschienenbahnen, Hunderte Buslinien und einige Trams. Vor Suica musste man sich für jedes dieser Verkehrssysteme am Automaten eine eigene Fahrkarte besorgen, Tarife studieren war mindestens so komplex wie das Verständnis des Fahrplans, wenn man kein Japanisch kann.

Nach dem Start von Suica, das bei JR East rasch gut angenommen wurde, weitete sich das System schnell aus. Mehr und mehr Ă–PNV-Gesellschaften interessierten sich fĂĽr das Verfahren und zogen die dafĂĽr passenden Bahnsteigsperren (Fare Gates) an ihren Stationen ein. Mit Pasmo kam 2007 ein direkter (aber kompatibler) Konkurrent der anderen groĂźen Gesellschaften hinzu. 2013 folgte schieĂźlich ein landesweiter Durchmarsch: Der sogenannte Nationwide Mutual Usage Service sorgt seither dafĂĽr, dass die inzwischen auch in anderen Regionen verwendeten lokalen IC Cards mit Namen wie Manaca, Nimoca, Icoca oder Kitaca untereinander kompatibel sind. Das heiĂźt: Man kann mit einer Suica-Karte (oder ihrer mobilen Variante) auch in Nagoya oder Osaka das Nahverkehrsnetz transparent und nahtlos verwenden.

Die Verwendung einer IC Card ist äußerst einfach: Man besorgt sich die physische Karte gegen eine kleine Gebühr (500 Yen, knapp 3 Euro) am Automaten und lädt dann auch gleich Geld darauf. Hier kommt jedoch gleich der erste Schock für kreditkartengewöhnte Westler: Weder lässt sich eine Suica bargeldlos kaufen, noch bargeldlos aufladen. Stattdessen nehmen die Automaten nur Yen-Scheine entgegen. Der Weg zum Geldautomaten ist Neunutzern nach der Landung in Narita oder Haneda also gewiss (oder auch nicht, mehr dazu unten). Bis zu 20.000 Yen fasst eine Suica, die ihre verbliebene Aufladesumme freundlicherweise aber auch zehn Jahre nach letzter Verwendung beibehält. Das sind also knapp 123 Euro. Höhere Geldbeträge unterstützt das System (noch) nicht. Zwischenzeitlich gab es in Japan eine Lieferkrise bei den für IC Cards notwendigen Chips, was es minimal erschwerte, neue Karten zu erwerben. Das ist aber aktuell kein Thema mehr. Will man wirklich eine physische Karte, sollte man stets zur normalen "grünen" Suica (oder zu Pasmo oder einem anderen System) greifen, nicht zur sogenannten Welcome Suica in roter Farbe – außer man hat nicht vor, noch einmal nach Japan zurückzukehren. Denn: Die Welcome Suica verfällt bereits nach 28 Tagen und es gibt keine Rückerstattung für noch enthaltenes Geld. Dafür zahlt man immerhin keine 500 Yen als Kaution für die Karte, die man schließlich, wie JR East recht treuherzig schreibt, "als Souvenir mit nach Hause nehmen" kann.

Ist die Suica am Automaten mit Bargeld erworben und aufgeladen, geht auch schon die Nutzung los: Will man einen Bahnsteigbereich betreten, hält man die Karte an den Kartenleser am Fare Gate und geht dann durch. Gleiches ist wieder beim Verlassen des Bahnsteigbereichs an der Ankunftsstation zu tun, wobei das Display am Fare Gate dann anzeigt, wie viel man "verfahren" hat. Das Preissystem können die Bahngesellschaften selbst bestimmen. Viele Menschen in Tokio kümmern sich aufgrund der vergleichsweise zivilen Kosten nicht darum, laden die Karte wieder auf, sobald sie leer ist. Alternativ kann man auch Wochen- oder Monatskarten auf die Karten packen, wenn man im Land wohnt. Busse und Trams akzeptieren Suica (und Pasmo und alle anderen Systeme) genauso, ebenso wie die meisten Taxis.

Wer über ein iPhone oder ein einigermaßen modernes Android-Gerät verfügt, muss sich aber gar nicht mehr um physische Karten kümmern. Dafür gibt es bereits seit fast zehn Jahren Mobile Suica, das erste iPhone-gestützte kontaktlose ÖPNV-Ticketsystem überhaupt. "Im Oktober 2016 begann JR East die Einführung einer Suica-Karte, die zu Apples Wallet hinzugefügt werden kann. Wir konnten dadurch unser neu entwickeltes System in die Apple-Pay-Plattform integrieren, woraufhin die Zahl der Nutzer in die Höhe schoss", sagt JR-East-Manager Kojou. Heute gebe es mehr als 30 Millionen Mobile-Suica-Nutzer. Dabei wurden allerdings zunächst nur für Japan gedachte iPhones unterstützt, da nur diese den notwendigen FeliCa-Chip enthielten. Doch schnell verbreiterte sich die Basis. Ab dem iPhone 8 von 2017 samt Apple Watch Series 3 aus dem gleichen Jahr ist das Feature weltweit verfügbar.

So kann man mit jedem heute gebräuchlichen iPhone Suica, Pasmo und Icoca direkt verwenden. Das Praktische dabei: Es ist entweder möglich, eine physische Suica-Karte zu importieren und deren Geldbestand auf das iPhone zu verlagern, oder gleich eine virtuelle Karte auf dem Gerät zu generieren. Das geht über die Wallet-App und kostet nichts zusätzlich. Und, endlich, ist damit auch möglich, Kreditkarten als Zahlungsmittel für das Aufladen von Suica, Pasmo und Icoca zu verwenden, ja, das ist dort sogar die einzige Möglichkeit. All das ist viel einfacher als physische Karten. Das iPhone oder die Apple Watch lässt sich zudem in einen Expressmodus versetzen, bei dem man das Gerät am Fare Gate nicht entsperren muss, sondern es einfach ans Lesegerät halten kann. Und was ist mit Android? Das geht natürlich inzwischen auch. "Der Anteil von Mobile Suica für das iPhone ist größer als für Android. Mobile Suica wurde aber im Mai 2018 für Google Pay eingeführt. Die Zahl der Android-Nutzer nimmt inzwischen stetig zu", so Kojou. Das Handy muss dazu FeliCa beherrschen, was aktuelle Modelle oft können. Dennoch sollte man sich vorab die Spezifikationen ansehen, damit man in Japan nicht doch zur physischen Karte greifen muss.

Suica und die anderen IC Cards sind längst viel mehr als nur Fahrkarten. Sie wurden zum ersten elektronischen Geld der Welt, das sich in einem großen Markt durchsetzen konnte. Zwar gab es in Deutschland und anderswo schon in den Neunzigerjahren Versuche mit der "GeldKarte" (eingestellt: 2024), doch bis auf Parkgebühren oder Briefmarken verwendete die fast niemand. Suica hingegen ist bei zahlreichen Geschäften in Bahnhofsnähe – und nicht nur dort – für tägliche Einkäufe im Gebrauch. Das ist der Kaffeeladen oder das Konbini-Multigeschäft, das es in Japan an jeder Ecke gibt. Die zahllosen Automaten (die nicht nur Getränke liefern, sondern die unterschiedlichsten Produkte) kommen ebenfalls mit IC Cards zurecht. Es gibt sogar Ketten wie etwa die japanischen Filialen der Donut-Kette Krispy Kreme, die kein Apple Pay entgegennehmen, das sonst weit verbreitet ist, sondern nur Suica als kontaktloses Zahlungsmittel.

Mittlerweile gibt es in Japan jedoch zahlreiche konkurrierende Bezahlverfahren, über die heise online in den kommenden Wochen berichten wird. Suica und die anderen IC Cards haben jedoch den Vorteil, dass sie als ÖPNV-Geldmittel unverzichtbar sind. Und JR East will das ausbauen. "Es gab Anfragen von unseren Kunden, dass sie Suica für die mehr und andere Anlässe nutzen wollen. Außerdem haben wir die Rückmeldung erhalten, dass die maximale Aufladegrenze von 20.000 Yen für Suica etwas niedrig ist", so Hisayoshi Hashimoto, Manager im Bereich Suica-Marketingstrategie. In einem weiteren Schritt könnte Suica auch ganz von Karten und FeliCa-fähigen Handys wegkommen und JR East ein QR-Code-basiertes Zahlungsverfahren in Suica integrieren, das nur per App arbeitet. Das ist Teil einer größeren "Suica Renaissance"-Strategie für die kommenden Jahre. In Zukunft könnten die mit einem immer komplexer werdenden Wust an Zahlungsmethoden ausgestatteten Bahnsteigsperren sogar ganz verschwinden: Bei JR East erwägt man, ab 2028 ein rein GPS-basiertes Verfahren zur Abrechnung der Reiseverbindung anzuwenden. Wirklich neu wäre das übrigens nicht: In Deutschland gab es so etwas – leider letztlich erfolglos – bereits bis 2016 als Touch&Travel bei der Deutschen Bahn und diversen ÖPNV-Betrieben, bei dem das "Touch" das Starten und Beenden der GPS-erfassten Reise in einer App war.

(bsc)