Ukraine-Krieg: Russische Medienaufsicht droht mit Wikipedia-Sperre
Die Online-Enzyklopädie informiert ausführlich über die Invasion der Ukraine und ist damit den russischen Behörden ein Dorn im Auge.
Weil die russische Sprachausgabe der Wikipedia von der offiziellen Version einer "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine abweicht, droht der Medienregulator Roskomnadsor mit einer Sperre der Online-Enzyklopädie. Die freiwilligen Autoren wollen jedoch nicht nachgeben.
Mit dem Einmarsch der russischen Armee in das Nachbarland hatte auch ein Informationskrieg begonnen. Die in Russland ansässigen Medien wurden verpflichtet, nur die offizielle Linie zu veröffentlichen. Inzwischen haben russische Behörden die Verbreitung mehrerer unabhängiger Medien unterbunden.
Top-Artikel in der russsischen Wikipedia
Wie in aktuellen Krisenlagen üblich, haben Wikipedia-Autoren in den vergangenen Wochen die Entwicklungen ausgiebig dokumentiert. Der Haupt-Artikel über die Invasion in russischer Sprache umfasst inzwischen über 70 Seiten und mehr als 500 Quellennachweise. Das Interesse ist groß: Der Artikel liegt mit mittlerweile mehr als 3 Millionen Abrufen an der Spitze der russischen Wikipedia-Ausgabe.
Die Wikipedia-Autoren sind einem "neutralen Benutzerstandpunkt" verpflichtet. Der Artikel enthält zum Beispiel die widerstreitenden Angaben der ukrainischen als auch der russischen Regierung über die Zahl der jeweils getöteten Soldaten. Die Behauptung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die ukrainische Regierung von Nazis beherrscht werde, war jedoch so abseits der etablierten Fakten, dass der Wikipedia-Artikel diese Version der Geschichte gleich zu Beginn als unzutreffend gekennzeichnet hat. Stattdessen ist in der Überschrift des Artikels von einer "Invasion" die Rede.
Nach dem Schreiben der Roskomnadsor, sieht die russische Generalstaatsanwaltschaft insbesondere in den Angaben über hohe Verluste der russischen Armee und getötete ukrainische Zivilisten einen Gesetzesverstoß, der letzlich zu einer Blockade der Wikipedia bei russischen Access-Providern führen könne.
Wikipedianer wollen nicht zurückweichen
Die Wikipedianer wollen jedoch nicht von ihrem Kurs abweichen. Sie haben das behördliche Schreiben veröffentlicht und warnen vor den Effekten der drohenden Sperrung. Würden russische Bürger von dem Editieren ausgeschlossen, sei es nicht möglich, weiterhin auf Dauer ausgewogene Informationen bereitzustellen. Nach Medienberichten wollen Wikipedianer die mögliche Sperre zunächst auf juristischem Wege bekämpfen. Gleichzeitig bereiten sie sich aber darauf vor, dass die Sperre unmittelbar bevorsteht und veröffentlichen Tipps, wie die Enzyklopädie weiter aufgerufen werden kann.
Es ist nicht der erste Konflikt der Wikipedia mit russischen Behörden. Bereits 2015 landete die Wikipedia auf einer offiziellen Sperrliste, weil die Enzyklopädie Informationen veröffentlicht haben soll, die jugendgefährdend seien. Da Wikipedia sein Angebot nur mit Transportverschlüsselung ausliefert, waren Versuche fehlgeschlagen, einzelne Artikel zu sperren, sodass die Blockade der gesamten Wikipedia bevorstand. Damals konnte der Konflikt aber beigelegt werden. Zwischenzeitlich bemühte sich der russische Präsident jedoch, eine Wikipedia-Alternative zu entwickeln und stellte dazu Staatsgelder bereit.
Aus dem Ausland erhält die russische Wikipedia-Community Unterstützung. "Die Informationsfreiheit ist in großer Gefahr, wenn der Zugang zu Fakten und Wissen unterdrückt wird", erklärt Christian Humborg, geschäftsführender Vorstand von Wikimedia Deutschland. Die Wikimedia Foundation mit Sitz in San Francisco zeigt sich zurückhaltender: Man arbeite mit den Communities in Russland und Ukraine zusammen, um die weitere Arbeit sicherzustellen. Eine Anfrage zur russischen Sperrandrohung beantwortete die US-Stiftung nicht.
(anw)