Umstrittene Bilanz für das Human Brain Project

Nach zehn Jahren läuft jetzt das "Human Brain Project" aus. Sein Ziel: ein menschliches Gehirn zu simulieren. Was ist daraus geworden?

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(Bild: Shutterstock)

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Inhaltsverzeichnis

Nach zehn Jahren läuft diesen September das Human Brain Project (HBP) aus. Das Großforschungsprojekt war Anfang 2013 neben dem Graphene Flagship von einer Expertenkommission aus einer Liste von insgesamt sechs Projekten ausgewählt worden. Das Ziel des HBP war extrem ambitioniert – und bereits damals umstritten: die biologisch plausible Simulation eines kompletten Gehirns. Nach zehn Jahren fällt die Bilanz des Projektes durchwachsen aus: Die Projektleitung am Forschungszentrum Jülich feiert das Projekt als wissenschaftlichen Erfolg. Das Ziel einer Simulation des menschlichen Gehirns ist allerdings gescheitert. Um zu verstehen, wie es dazu kam, hilft ein kurzer Rückblick.

Unter dem Druck der internationalen Konkurrenz – vor allem den USA und China – entschloss die EU sich Anfang der 2010er Jahre erstmals Forschungsprojekte zu fördern, die "große Fragestellungen" bearbeiten, deren Beantwortung die "zukünftige Innovationsfähigkeit Europas" sichern sollten. Über zehn Jahre lang, mit jeweils 100 Millionen Euro – also insgesamt je eine Milliarde Euro. Welche Projekte das sind, sollte in einem mehrstufigen Auswahlverfahren entschieden werden. Dementsprechend waren alle eingereichten Projektideen visionär und spekulativ.

Kritiker der Initiative, die von Neelie Kroes ausging, damals EU-Kommissarin für die "Digitale Agenda", bemerkten schon damals, dass die Finanzierungszusage der EU recht vage war. Tatsächlich wurde das Human Brain Project insgesamt mit rund 600 Millionen Euro gefördert. Dennoch blieb die EU bei diesem Modell der Projektförderung. 2018 startet sie das Quantum Technologies Flagship. Das Projekt Battery 2030+ – 2020 gestartet, mit ebenfalls zehn Jahren Laufzeit – erhält jedoch weniger Mittel und ist stärker auf einer Mitwirkung der Industrie ausgerichtet.

Aber zurück zum Human Brain Project: Der Gründer und frühere Direktor, der Neurowissenschaftler Henry Markram von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), hatte bereits zuvor an einem ähnlichen Projekt gearbeitet: Blue Brain. Gefördert von der Schweizer Regierung und unterstützt von IBM arbeiteten Markram und sein Team daran, die "kortikale Kolumne" eines Rattenhirns zu simulieren – eine Art universales Modul der Großhirnrinde, das aus rund 10.000 Neuronen besteht. Die Simulation sollte das Zusammenwirken all dieser Zellen nun detailgetreu abbilden. Sein Team hatte über zehn Jahre daran gearbeitet, die genaue Lage der einzelnen Nervenzellen in der Ratten-Kolumne zu ermitteln und ihre Verschaltung zu untersuchen.

In den technischen neuronalen Netzen werde die "komplexe Biologie des Neurons auf einen Punkt reduziert", kritisiert Markram im Jahr 2005 gegenüber TR. Anstatt Neuronen weiterhin als Punkt abzubilden, berücksichtigte die Simulation die Verästelungen der Neuronen und berechnete, wie sich die Aktionspotenziale in den Neuronen ausbreiten – immer getreu der detaillierten Messungen im Rattenhirn-Gewebe. Mit 5000 Neuronen hatte sein Team bereits gezeigt, dass die Idee im Prinzip funktioniert. Sein Ziel mit dem HBP war es, innerhalb eines Jahrzehnts in der Lage zu sein, auch das menschliche Gehirn auf zellulärer Ebene zu simulieren.

Der tiefere Blick ins Gehirn

Markrams Behauptungen lösten allerdings schon damals bei Neurowissenschaftlern große Skepsis aus: Man wisse nicht genug über die Vernetzung der Neuronen, hieß es, man wisse auch nicht, welches Abstraktionsniveau des Modells notwendig sei, und wie man die natürliche Variabilität echter Neuronen auf das Modell übertragen sollte. Die vorsichtigen Kritiker sagten, das Projekt sei "zu früh", die prinzipiellen Kritiker hielten die Idee für "Zeitverschwendung".

Der Konflikt um die Ausrichtung des Projektes entzündete sich jedoch nicht an theoretischen oder konzeptionellen Fragen, sondern am Geld. Die Dokumentation "In Silicio" des Filmemachers Noah Hutton, der Markram und sein Projekt über 15 Jahre begleitete, zeigt das sehr eindrücklich: Weil Markram den Schwerpunkt des Projektes auf die Computing-Infrastruktur und die Entwicklung der Simulation gelegt hatte, fürchteten viele eher traditionell ausgerichtete Hirnforscher um ihre Gelder. Sie drohten in einem offenen Brief, das Projekt zu boykottieren, wenn es nicht neu evaluiert und anders ausgerichtet würde. Die EU-Kommission gab dem Druck nach. Sie setzte einen Ausschuss unabhängiger Fachleute ein, der sich mit der Leitung des Projekts befassen und dessen wissenschaftliche Ziele überarbeiten sollte. Der Ausschuss empfahl, das HBP solle seine wissenschaftlichen Ziele neu bewerten und klarer formulieren sowie "die kognitiven und systemischen Neurowissenschaften wieder in sein Kernprogramm integrieren".

Im Februar 2015 wurde die bisherige Leitung des Projektes abgesetzt und durch ein neues Gremium ersetzt. Markram war faktisch aus dem Spiel und konzentrierte sich nun wieder auf das Blue Brain Project. Im Oktober 2015 veröffentlichte sein Team zwar die Ergebnisse einer kompletten Ratten-Kolumne, in der tatsächlich zu sehen war, wie sich die Signale innerhalb der Kolumne von Neuron zu Neuron ausbreiten. Allerdings konnte auch diese Arbeit seine Kritiker nicht besänftigen.

Zwar lieferte das HBP in den folgenden Jahren eine Reihe wichtiger Ergebnisse, schreibt Nature, unter anderem den wohl detailliertesten Atlas des Gehirns, der zurzeit existiert. Doch "die wissenschaftlichen Ergebnisse wurden fragmentiert und mosaikartig", sagt HBP-Mitglied Yves Frégnac, ein Kognitionswissenschaftler und Forschungsdirektor bei der nationalen französischen Forschungsagentur CNRS in Paris. Seiner Meinung nach hat das Projekt nicht ausgereicht, um ein umfassendes oder originelles Verständnis des Gehirns zu vermitteln. “Ich sehe nicht das Gehirn, ich sehe Teile des Gehirns”, sagt Frégnac.

Immerhin: aus den ambitionierten Simulations-Zielen ist EBRAINS hervorgegangen, eine offene Forschungsinfrastruktur, die Daten, Software-Werkzeuge und Rechenanlagen für die Hirnforschung bereitstellt. Allerdings ist deren weitere Finanzierung nach dem Auslaufen des HBP noch nicht gesichert.

Noah Hutton kommt in seinem Film zu keinem eindeutigen Fazit. "Wenn ich mit den Kritikern rede und wieder gehe, denke ich kritisch über das Projekt", sagt er. "Wenn ich mit Henry (Markram) spreche, glaube ich wieder daran. Wenn ich runter ins Erdgeschoss gehe, und mir die Visualisierungen ansehe, glaube ich noch mehr daran." Am Schluss scheinen aber doch seine Zweifel zu überwiegen. Markram selbst arbeitet weiter an Blue Brain – und an seiner eigenen Version der Geschichte. Die Frage, ob es möglich ist, ein komplettes Gehirn zu simulieren, ist immer noch offen.

(wst)