Das Internet feiert 50. Geburtstag: Generation X – Vom Aufwachsen mit dem Netz

Die Generation X war die erste, die mit dem Internet sozialisiert wurde. Anfangs voller Hoffnungen, sind viele nun enttäuscht.

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Das Internet feiert 50. Geburtstag: Generation X – Vom Aufwachsen mit dem Netz

(Bild: Ian Dyball/Shutterstock.com / heise online)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vom ARPANET zum Internet über das World Wide Web prägte die Vernetzung mehrere Generationen, von denen die ersten bereits Rückschau auf ihr Leben mit dem Netz und in dem Netz halten. Vom Optimismus früherer Zeiten ist dabei aber wenig geblieben.

50 Jahre Internet

Das Internet hat viele Geburtstage - ebenso wie viele Väter und Mütter. Der 29. Oktober aber zählt für viele, die dabei waren, und für viele, die später an der Weiterentwicklung arbeiteten, zu einem entscheidenden Datum: die erste Kommunikation zwischen zwei Rechnern glückte. Aus diesem Anlass: Mehrere Blicke auf Geschichte, Entwicklungen, Abschweifungen und Zustand des Netzes der Netze.

Jede Generation hat prägende Lebenserfahrungen, die vom Umgang mit neuen Technologien beeinflusst wurde. Auf die Baby Boomer der 50er und sechziger Jahre folgte die Generation X oder die MTV Generation, von der ein Teil in Germanien auch Generation Golf genannt wurde. Sie wuchs mit den Musik-Videos von MTV, Multimedia und Computerspielen auf, wie ein Blick in die aktuelle c't retro zeigt. Sie klickte sich ungeniert und ungesichert nach aufregenden Abenteuern in Mailboxsystemen durch die ersten Webseiten und verschlang alles, was da von den Segnungen des schönen Lebens gepriesen wurde. "Vernetztsein, heißt jung sein", predigte Nicholas Negroponte, der sich in aller Bescheidenheit auch mal "Philosoph des asynchronen Lebens" nannte.

Mit seinem Buch Generation X beschrieb Douglas Coupland im Jahr 1991 eine Kohorte junger Menschen, die man als erste Generation bezeichnen kann, die mit dem Internet und durch das Internet sozialisiert wurde. Sie ist – zumindest in den USA – die Generation, die aus der Ära von Reagan und Bush in den Sonnenschein des Lächelns von Bill Clinton eintaucht. Anstelle der harten Debatten um politische Korrektheit und den richtigen Feminismus setzte diese Generation auf "lessness", so die Diagnose von Coupland. Weniger Ehrgeiz, weniger Stress, wenig gutbezahlte Jobs, dafür mehr Herumhängen, vor dem Fernseher und vor allem vor dem Computer. Die großen Gesten der Boomer-Gegenkultur – von Woodstock verkörpert – waren in dieser Generation verbraucht und muffig oder wurden von großen Unternehmen ausgeschlachtet. Man denke nur an Lucent Technologies, das "Born to be wild" zum Firmenslogan kürte.

Der Kanadier Coupland, der ursprünglich ein Sachbuch über diese Internet-Generation schreiben wollte, endete mit einer Art Bildungsroman zum "neuen Sozialisationstypus", der sich nicht für ein ordentliches Leben und einen geregelten Beruf entscheiden kann. Wenn überhaupt in einer richtigen Firma angestellt, dann arbeitete man als Microsklave für Firmen wie Microsoft, Oracle und Novell. Wenn nicht, dann schrubbte man HTML für irgendwelche Web-Neustarter. Ein anderer Autor, John Katz, beschrieb die "verlorene Generation" der Jugendlichen, die alles am Computer können, als Geeks. In dieser Hinsicht waren sie dann doch erfolgreich, denn mit den vielen neuen Internet-Firmen entstand ab 1992 ein Biotop, in dem diese Geeks sehr gut existieren konnten. Bereits in der ersten Ausgabe des "Internet Advertising Reports" von Morgan Stanley anno 1997 wurde die "gut trainierte Generation X" als wichtigste (kaufkräftigste) Gruppe für digitale Inhalte aller Art gefeiert.

Um all dem soziologischen Streit aus dem Wege zu gehen, wie eine Generation definiert wird, ist es sinnvoll, die Generation selbst zu Worte kommen zu lassen. Im Jahre 1995 prägte die seit 1988 mit Computern und Digitalkunst arbeitende Station Rose den Begriff des "Digital Bohemian", der im "Digital Cocooning" seiner Vernetzung lebt und arbeitet. Station Rose schwärmte vom neuen Lifestyle: "Ein Lifestyle, vom digitalen Arbeitsraum geprägt, kein nine-to-five-job, kein zur-Arbeit-fahren-müssen, sondern ein chaotisches Ineinanderfließen von Arbeitsabfolgen und Zeitzonen. Wir trennen nicht mehr zwischen Beruf und Freizeit, sondern morphen diese beiden zu einer neuen telematischen Lebensform. Das heißt, dass man sich hauptsächlich @home aufhält, als Teleworker immer nur Schritte entfernt ist von Studio, ISDN, Internet. Man besucht Freunde über CUSeeMe, schickt und empfängt E-Mail, HTML-Scripts, Soundfiles, GIFs, Programme."

Mit dieser "gemorphten" Einstellung einer neuen telematischen Lebensform einher ging die unbedingte Neugier gegenüber einer spannenden Zukunft. Ein Diskussions-Brett der WELL, die zunächst einmal eine lokale kalifornische Mailbox war, beschrieb das so: "Wir sind alle an der Zukunft interessiert, denn dort werden du und ich den Rest unseres Lebens verbringen."

Apropos WELL. Über die erste Netz-Generation wurden viele Abhandlungen geschrieben, am bekanntesten wohl "Die virtuelle Gemeinschaft" von Howard Rheingold, der 1993 das Online-Leben in der WELL porträtierte. Im Buch beschreibt er nicht nur, wie sich Online-Gemeinschaften bilden und sich gegenseitig mit Rat und Tat helfen, sondern er entwickelte auch die Idee einer künftigen Geschenk- und Aufmerksamkeitsökonomie, die das Leben der Netzgeneration begleiten wird. Rheingolds Enthusiasmus für die sich entwickelnden Gemeinschaften wurde von vielen geteilt.

Als spätes Beispiel für diese Begeisterung beim Online-Sein kann ganz aktuell der Whistleblower Edward Snowden genannt werden, der in seiner Autobiografie schreibt: "Aber für einen kurzen, wunderschönen Zeitraum – einem Zeitraum, der zu meinem Glück fast genau mit meiner Pubertät zusammenfiel – wurde das Internet von Menschen für Menschen gemacht. Sein Zweck war es nicht, Geld zu verdienen, sondern aufzuklären, und es wurde eher durch ein provisorisches Cluster sich ständig wandelnder, kollektiver Normen geregelt als durch ausbeuterische, der ganzen Welt aufgezwungene Nutzerbedingungen."

Die coole Welt der Geeks, der Künstler, Designer und der ersten Web-Kleinunternehmer produzierte sofort ganz eigene Mythen, von denen viele im Umfeld der ersten Netzgeneration entstanden und dann weiterentwickelt wurden. Man denke nur an das Cyborg Manifesto der Verschmelzung von Mensch und Computer bei gleichzeitiger Auflösung der Gender-Gegensätze, mit schwarz gekleideten langhaarigen Cyberpunks, die in Lederjacken allerlei Klimbim mit sich herumtrugen, vom Laserpointer über Pager bis zum Scramblerphone. Die eher randständige Hacker-Kultur des frühen Internet wurde Pop.

Bestens illustriert dies die Aufstiegsgeschichte der Zeitschrift Wired. Sie war – zumindest in den Anfängen – das Aushängeschild einer Kultur, die den technologischen Fortschritt predigte und sehr libertär gesinnt war. Legendär wurde das Coverbild vom Mai 1993, dass die drei Gründer der Mailingliste für Cypherpunks Timothy C. May, Eric Hughes, John Gilmore mit ihren PGP-Key-Kürzeln zeigte. In der Begeisterung für alles anti-staatliche propagierte Wired anonymes Geld wie eCash von Digicash oder das später dann realisierte HavenCo-Projekt in der Nordsee vor Großbritannien. In dieser libertären Tradition stehen heute die Schiffbau-Pläne des Paypal-Gründers Peter Thiel, dem wohl bekanntesten Magnaten der Generation X.

Wired und das Umfeld mit Ausgründungen wie der Website Hotwired und des Buchverlages Hard Wired begeisterte sich für all die schönen neuen Gadgets und war ein ideales Umfeld für viele Hochglanz-Anzeigen, die die Generation X für den anhaltenden Techno-Konsum begeistern sollten. Daneben war die Wired-Crew in ihrer Phase als Trendsetter bis etwa 1998 nicht besonders frauenfreundlich, wie Paula Borsook in ihrem Buch Cyberselfish (dt. "Schöne neue Cyberwelt") beschreibt. In dieser Hinsicht war die Generation X nicht besonders inklusiv. Entsprechend harsch fielen die männlichen Reaktionen auf Borsooks Kritik aus. Da war es schon vorbei mit dem Bemühen der Netzgeneration, stressfrei zu leben. in dem Maße, in dem die Generation X erwachsen wurde, wurde aus der "lessness" der Jugend der lässige Schick einer Generation im besten Alter, die Beobachter wie David Brook als bourgeoise Bohemians, kurz Bobos bezeichneten. Ein anderer Vorschlag, die etablierten Leute "Information Age Burghers" zu nennen, konnte sich nicht durchsetzen.

Die vor allem durch Internet-Firmen reich gewordenen Bobos pflegten einen bürgerlichen Lebensstil und verbanden ihn mit Themen aus der Gegenkultur der 60er Jahre. Politisch blieb man abstinent, spendete aber für Organisationen wie ACLU und besonders für die Electronic Frontier Foundation. Wired feierte die Generation als Adventure Capitalists, andere Zeitschriften brachten Listen der reichsten oder einflussreichsten Personen des "New Establishment", auf Digitalkonferenzen wurden sie gefeiert. Heute ist die erste Netzgeneration in der Sinnkrise angelangt. So schrieb die US-amerikanische Schriftstellerin Anna Winger unlängst in der Süddeutschen Zeitung: "Meine Generation von Amerikanern, bekannt als Generation X, sollte jetzt eigentlich politische Führungspositionen besetzen. Wir sollten die Probleme, denen das Land entgegenblickt, anpacken. Stattdessen überlassen wir die Politik den ganz Jungen oder ganz Alten.... Ich kenne fast niemanden in meinem Alter in den USA, der professionell Politik betreibt, geschweige denn im öffentlichen Dienst arbeitet."

Doch die Hoffnung auf die ganz andere Sozialisierung einer neuen Netzgeneration stirbt nicht aus. Weil er so schön donnern konnte, sei zum Schluss der Netz-Romantiker Perry Barlow zitiert, der darauf hoffte, dass die Enkel es besser ausfechten werden: "Wir sind am Ende der Welt, wie wir sie kennen. Unsere Enkelkinder werden sich ihre Ordnung durch Methoden schaffen, die wir uns nicht vorstellen können; unser Vermächtnis für sie sollte eine virtuelle Landschaft sein, die offen ist für alle Möglichkeiten, die sie vielleicht ausprobieren wollen. Lasst uns für sie Ahnen sein, die so großartig sind, wie es Jefferson und Madison für uns waren. Lasst uns ihnen alle Freiheiten hinterlassen. Sie können dann selbst entscheiden, für welche ihr Mut ausreicht, sie beizubehalten." (mho)