Kommentar: Zuckt sie noch? Vom nahen Ende der Vorratsdatenspeicherung

Der Vorsitzende der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) Ulf Buermeyer analysiert, was die Entscheidungen der letzten Tage für die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland bedeuten.

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Vorratsdatenspeicherung

Das Gesetz zwingt Internetprovider und Telekommunikationsunternehmen, sogenannte Verkehrsdaten zu speichern. Daraus lässt sich rekonstruieren, wer wann und wo mit wem telefoniert hat

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Ulf Buermeyer
Inhaltsverzeichnis

Am 22. Juni verkündete das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster eine juristische Sensation: Die deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung (VDS), die der Gesetzgeber erst im Dezember 2015 beschlossen hatte, sind mit dem Europarecht unvereinbar. Auch wenn die Entscheidung formell nur die Antragstellerin des Verfahrens begünstigt, die Münchener Spacenet GmbH, lässt die Begründung des OVG keinen Zweifel: Das ist keine Entscheidung im Einzelfall und keine vorläufige Sicht der Dinge, sondern das endgültige Ende der VDS 2.0 in Deutschland.

Warum das so ist, wird deutlich, wenn man sich die drei möglichen Entscheidungen vor Augen hält, die ein Verwaltungsgericht bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung treffen kann: Ist der Antrag eindeutig unbegründet, wird das Gericht ihn zurückweisen. Ist der Fall unklar – etwa weil der Sachverhalt sich nicht schnell aufklären lässt oder weil die Rechtslage von der Entscheidung eines anderen Gerichts abhängt – dann wird das Gericht eine Folgenabwägung treffen: Sind die Folgen weniger gravierend, wenn die Anordnung einstweilen ergeht und sich später als falsch herausstellt – oder sind sie milder, wenn das Gericht gerade andersherum entscheidet? Eine dritte Option wird ein Verwaltungsgericht hingegen wählen, wenn ein Antragsteller in der Hauptsache gewinnen dürfte und der Fall außerdem eilig ist: Es wird eine einstweilige Anordnung erlassen.

Ein Kommentar von Ulf Buermeyer

Ulf Buermeyer ist ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts und Richter des Landes Berlin. Dort war er seit 2008 in verschiedenen großen Strafkammern des Landgerichts tätig. Außerdem ist er Vorsitzender der 2015 gegründeten Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V., die sich mit strategischen Klagen für Grund- und Menschenrechte engagiert.

Liest man den Beschluss aus Münster genau, so erkennt man, dass die drei Richter mit großer Entschiedenheit die dritte Option gewählt haben: Sie lassen in ihrer mehr als 40 Seiten langen detaillierten Begründung überhaupt keinen Zweifel daran, dass die VDS 2.0, die in Deutschland eigentlich zum 1. Juli in Kraft treten sollte, gegen europäisches Recht verstößt. Sie referieren detailliert die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in Sachen VDS und treffen eine eindeutige Entscheidung. Sie wägen nicht etwa Folgen ab, was bei einer unklaren Sach- oder Rechtslage zu erwarten wäre. Vielmehr stellen sie unmissverständlich fest: Die Spacenet GmbH wird auch in der Hauptsache gewinnen. Spacenet ist nicht verpflichtet, Vorratsdaten zu speichern, weil die entsprechenden Paragraphen des Telekommunikationsgesetzes insgesamt „unanwendbar“ sind.

Diese „Unanwendbarkeit“ ist eine Besonderheit des Europarechts: Verstößt ein Gesetz gegen das Grundgesetz, so müssen alle Gerichte und Behörden es trotzdem weiter anwenden, bis das Bundesverfassungsgericht das Gesetz gekippt hat – in der Rechtswissenschaft spricht man von einem „Verwerfungsmonopol“ des BVerfG. Normen, die mit dem Europarecht nicht vereinbar sind, gelten hingegen „von ganz alleine“ nicht mehr. Sie stehen zwar noch im Gesetz, aber sie entfalten keine rechtliche Wirkung mehr. Und genau diese Rechtsfolge hat das OVG Münster in seinem Beschluss akribisch und fundiert aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgeleitet.

Das bedeutet in der Praxis, dass die VDS-Regelungen zwar noch zombie-artig das Telekommunikationsgesetz heimsuchen – aber rechtliche Wirkung entfalten sie nicht mehr. Und das gilt auch über den Einzelfall hinaus: Formell gilt der Beschluss des OVG zwar nur für Spacenet. Aber die gewählte Begründung ist so wasserdicht und präzise, dass sie über den konkreten Fall hinausreicht und die VDS 2.0 insgesamt beerdigt.

Das hat nach einigen Tagen der Schockstarre auch die Bundesnetzagentur (BNetzA) erkannt: Zwar konnte sie sich nicht dazu durchringen, die rechtlichen Folgen der OVG-Entscheidung offen anzusprechen und von einer Unwirksamkeit der VDS-Normen zu sprechen. Stattdessen beharrt sie trotzig darauf, die Speicherpflicht gelte weiterhin. Dass die Behörde dies aber selbst nicht wirklich glaubt, erkennt man daran, dass sie die Speicherung nicht mehr erzwingen will: Würde die Pflicht zum Datensammeln gelten, wäre die Behörde verpflichtet, sie auch durchzusetzen – dass sie dies gerade nicht tut, spricht also Bände.

Irritierend ist allein, wie sich die Bundesregierung noch an ihr gescheitertes Gesetz klammert: Anstatt die toten VDS-Normen im TKG stehen zu lassen, wäre es eine Frage des politischen Anstands gewesen, als Antrag der Fraktionen der Großen Koalition sofort ein TKG-Bereinigungsgesetz vorzulegen, das die VDS-Paragraphen auch formell aufhebt. Das würde der Rechtsklarheit dienen und es den Providern ersparen, ihrerseits Eilanträge an das Verwaltungsgericht Köln zu stellen: Nur so lässt sich letzte Rechtssicherheit erlangen, auch wenn derzeit von der BNetzA kein Ungemach droht – und wohl auch nicht mehr drohen wird

Apropos Provider: Aufgrund der europarechtlichen Unanwendbarkeit der VDS-Normen dürfen sie keine Vorratsdaten mehr speichern. Einige haben dies auch schon angekündigt. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte widerum will Provider vor Gericht bringen, die die VDS illegal fortsetzen wollen, und sucht derzeit Freiwillige für mögliche Klagen.

Was bedeuten die jüngsten Entwicklungen nun für die Verfassungsbeschwerden, die dem Bundesverfassungsgericht vorliegen? Sie sind letztlich von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs überholt worden: Sollte das BVerfG entscheiden, dass die VDS 2.0 (auch) gegen das Grundgesetz verstößt, so würde das Gericht letztlich nur auf der Grundlage nationalen Rechts wiederholen, was seit der Entscheidung des EuGH vom Dezember 2016 feststeht: Dass nämlich eine VDS, die unterschiedslos alle Menschen erfasst, schlechthin unvereinbar mit dem Recht auf Privatsphäre ist.

Karlsruhe steht damit ziemlich blamiert da: Die Entscheidung von 2010, bei der die VDS 1.0 nur wegen der mangelhaften Datensicherheit gekippt wurde, eine anlasslose Massenspeicherung auf Vorrat im Grundsatz aber akzeptiert wurde, erscheint im Vergleich zur Rechtsprechung des EuGH nun geradezu hasenfüßig. Allzu leichtfertig haben die Karlsruher Richterinnen und Richter die empirisch europaweit unbelegten Behauptungen der VDS-Lobby übernommen, dass eine solche Maßnahme verhältnismäßig, insbesondere auch wirksam sei. Der EuGH hingegen schaut genauer hin, erkennt die fatalen Folgen einer generellen VDS und weist der Privatsphäre ein höheres Gewicht zu als letztlich leeren Behauptungen. Damit macht der EuGH dem BVerfG, das immerhin Ende 1983 mit seiner bahnbrechenden „Volkszählungs“-Entscheidung das Datenschutz-Grundrecht informationelle Selbstbestimmung erfunden hat, die Rolle des führenden Gerichts für Grundrechtsschutz in Europa streitig.

Das BVerfG scheint bei der VDS die Zeichen der Zeit leider noch nicht erkannt zu haben. Alle Eilanträge blieben bisher ohne Erfolg – obwohl Karlsruhe spätestens nach der Entscheidung des EuGH vom Dezember 2016 zu derselben Einschätzung wie jetzt das OVG Münster hätte kommen können und müssen: Wegen der europarechtlichen Unanwendbarkeit der VDS-Normen gebieten es informationelle Selbstbestimmung und Telekommunikationsgeheimnis, die VDS auf Eis zu legen. Das BVerfG lässt sich hier beim Schutz der Privatsphäre ohne Not die Butter vom Brot nehmen. Im Interesse der Rechtsklarheit, aber auch des bisher exzellenten Rufs des BVerfG als Hüter der Grundrechte wäre zu hoffen, dass das Gericht hier zu seiner früheren Entschlussfreude zurückfindet: Immerhin wurde die erste VDS 2008 per Eilentscheidung wesentlich entschärft.

Die Entwicklungen der letzten Tage zeigen schließlich, dass Gerichtsverfahren zum Schutz von Freiheitsrechten ein rechtlich sehr komplexes Thema sind. Zum effektiven Schutz der Grund- und Menschenrechte braucht es mehr als nur Verfassungsbeschwerden, auch wenn diese natürlich ein wesentlicher Baustein jeder Litigation-Strategie bleiben. Deswegen setzen neue spezialisierte zivilgesellschaftliche Akteure wie die GFF nicht allein auf Karlsruhe, sondern auf einen bunten Strauß rechtlicher Schritte – vom Amtsgericht bis zum EuGH. (axk)