Missing Link zu Smart Borders: “Die Leute werden jede Grenze niederreißen”

Seite 6: Belfast: Die Stadt der Zäune

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So begrüßt das protestantische Viertel East Belfast an der Hauptstraße Katholiken, die sich im Viertel verirrt haben.

(Bild: Valerie Lux)

Die Sonne strahlt in der nordirischen Hauptstadt vom Himmel herunter. Das Parlament für Nordirland thront imposant auf einem grünen Hügel über Belfast. Belfast ist ähnlich wie Derry eine Stadt, die in Europa ihresgleichen sucht. Zerrüttet durch den langen Bürgerkrieg, sind sämtliche Stadtviertel eingezäunt oder von Mauern umgeben, deren Durchlässe abends wie Stadttore im Mittelalter gegen die paramilitärischen Einheiten der jeweils anderen Konfession verschlossen werden. Strikt sind die katholischen Viertel von den protestantischen Arealen getrennt.

Zum Parlament schlängelt sich der Bus kurvenreich durch den traditionell protestantischen Stadtteil East Belfast, in dem um jeden Laternenmast britische Union-Jack-Flaggen geschlungen sind. Symbole von irritierenden Nationalismus, die man sonst nur selten auf europäischen Straßen sieht. Das weiß-blau-rote Flagge sieht man in jedem Vorgarten, eifrig bekunden die Bewohner ihre Loyalität zum britischen Staat. Brutale Wandgemälde erinnern die Besucher an die britische Herrschaft, die abschreckende Wirkung ist unverkennbar.

Haus von britischen Loyalisten in East Belfast.

(Bild: Valerie Lux)

Es ist paradox: In den grünen Hügeln entlang der tatsächlichen Staatsgrenze gab es kein einziges sichtbares Grenzsymbol. Doch hier, in der Hauptstadt Belfast, laufen die steinernen und drahtigen Mauer quer durch den Stadtkern, zerschneiden scharf die Straßen. Die Grenze ist nicht nur geographisch sichtbar, sie verläuft hier auch eindeutig noch in den Köpfen der Menschen.

Im Inneren des Parlamentes ist es leer. Gold glänzt von Innenwänden und Decke. Ausladende Lüster beleuchten das menschenleere Gebäude mit seinen marmornen Säulen. Hier und da wuseln ein paar Touristen herum. Seit zwei Jahren hat dieses Parlament nicht mehr getagt. Inmitten der schmerzvollen Geburtswehen des Brexits besitzt Nordirland keine Stimme. Es gibt keine nordirische Regierung. Sämtliche Ministerposten sind vakant. Seit der letzten Wahl 2016 konnten sich die protestantische DUP und die ehemalige IRA-nahe Partei Sinn Féin nicht auf eine Koalition einigen, stattdessen überzogen sie sich mit Korruptionsvorwürfen. Mit einer Besuchergruppe geht es in die leeren Säle des Parlaments.

Der große, viereckige Senats-Saal mit rotem Teppich, Mahagoni-Stühlen und marmornen Säulen diente während des Zweiten Weltkriegs als Lage- und Einsatzzentrum der Royal Air Force. Am Ende des Saales steht ein weißes Roll-Up mit der Aufschrift “Renewable Heat Incentive Enquiry”. Die DUP-Vorsitzende und Erste Ministerin Nordirlands Arlene Foster soll in ihrer Zeit als Handelsministerin Steuergelder verschwendet haben, indem sie auf jeden gezahlten Cent erneuerbaren Stromverbrauchs eine Pauschale zahlen ließ. Das Resultat war, dass Bürger leerstehende Ställe und nicht genutzte Schuppen beheizten, um die Strompauschale zu kassieren. Sinn Féin warf Foster Steuergeldverschwendung vor; an diesem Debakel zerbrach die letzte Regierung.

Ein Ehepaar, zwei Rentner mit protestantischer Herkunft in der Besuchergruppe, beantworten meine Frage nach ihrer nationalen Zugehörigkeit so: “Meine Güte, wir leben seit über 200 Jahren hier in Belfast. Ich fühle mich weder protestantisch noch britisch”, sagt der ältere Herr und schiebt seine Brille hoch. “Wir sind Nordiren”, ergänzt seine Frau. Nordirland ist eine eigene Identität.

Unvermutet trifft die Besuchergruppe in einen der marmornen Gänge auf Robin Newton, seines Zeichens Parlamentspräsident und DUP-Mitglied. Ich nutze die Chance. Herr Newton, wann gibt es wieder eine Regierung, frage ich ihn. Röhrendes Gelächter von den hauptsächlich irischen Touristen. “Ich weiß es nicht”, lächelt er vorsichtig. Was machen Sie denn dann als Parlamentspräsident täglich in diesem Gebäude? “Wir führen Brexit-Delegationen herum und zeigen ihnen die Räumlichkeiten”, sagt er und verschwindet schnell hinter einer Säule, um weitere Fragen zu vermeiden. Als ich mich am Empfang erkundige, heißt es, dass Anfragen an sein Büro nicht durchgestellt werden könnten.

Die Einzigen, die in Nordirland die Einrichtung einer smart border verteidigen, sind Politiker der DUP. Die DUP kann parteipolitisch in etwa mit der AfD verglichen werden: Keine Migranten, keine Katholiken, keine Abtreibung, keine Homo-Ehe. Die protestantischen paramilitärischen Gruppen wüteten einst genauso schlimm wie ihr Counterpart der katholischen IRA. Der 2014 verstorbene ehemalige Parteichef Ian Paisley ließ einst verlauten, dass es per defintionem niemals Frieden mit den Katholiken geben könne.

Die DUP ist seit 2017 der Königsmacher in den Brexit-Verhandlungen. Ihr stehen zehn Abgeordnetenstimmen in Westminster zu, sie gilt als Zünglein an der Waage. Die Minderheiten-Tory-Regierung von Theresa May kann nur dann Gesetze verabschieden, wenn die DUP zustimmt. Aus Protest gegen die britische “Besatzung” von Nordirland nehmen die katholischen Sinn Féin-Abgeordneten aus Irland ihre Plätze im Londoner Parlament nicht ein, ihre Stimmen werden nicht gezählt – weder in Belfast noch in London. Das könnte alles auch Taktik sein, behaupten manche. Sinn Féin spekuliere auf ein wiedervereinigtes Irland in den Brexit-Wirren und nehme deswegen absichtlich eine politisch destruktive Haltung ein.