re:publica: US-Forscher hält Chinas Social-Credit-System für Propaganda

Seite 2: "Ablenkung von echten Problemen"

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Für Daum wird "von den echten in Problemen in China" abgelenkt, beispielsweise, dass die Uiguren im autonomen Gebiet Xinjiang tatsächlich unterdrückt würden. Es werde keinen einheitlichen Score für ganz China geben: Alle wollten zwar Daten, aber keinen großen Einheitsbrei, sondern nur solche, "die gerade für sie nützlich sind".

Auch die Sorgen, dass China ein gigantisches Kontrollsystem in den Westen exportieren wolle, seien übertrieben. Scoring existiere dort schon lange und werde betrieben von Firmen wie der Schufa, die profitgesteuert seien und nur gesetzlich etwas eingeschränkt würden. Viele Sicherheitsbehörden setzten zudem hier wie dort auf "predictive policing", wo ein Algorithmus darüber entscheide, wer als Opfer oder Verbrecher eingestuft werde.

80 Prozent der Chinesen nutzen Sesame Credit oder die Alternative WeChat von Tencent. Dazu steuerte Genia Kostka, Professorin für chinesische Politik an der FU Berlin, Zahlen aus einer eigenen Studie zum Thema bei. Sieben Prozent wüssten etwas von einem ähnlichen Regierungssystem. Selbst in Pilotregionen für das Social-Credit-Programm seien 30 Prozent der Bewohner nicht darüber im Bilde. 80 Prozent befürworteten es, da sie die Daten beim Staat sicherer wähnten als bei profithungrigen Firmen.

Die Lebensqualität werde von den meisten Befragten als wichtiger angesehen als die Privatsphäre, berichtete Kostka. Aspekte wie Fairness und Transparenz eines Citizen Score würden künftig erst noch zu wichtigen Fragen und momentan von den Staatsmedien ausgeblendet. Dort werde das Vorhaben als "kollektive Anstrengung" dargestellt, um eine "Vertrauenskultur" aufzubauen oder Gerichtsbeschlüsse durchzusetzen, ergänzte Manya Koetse, die aus den Niederlanden soziale Trends in China verfolgt. Die Propagandamaschine laufe auf Hochtouren: Über Dutzende Social-Media-Konten sowie in Texten, Videos, Cartoons sowie sogar in einem Song werde das Loblied auf Social Scoring angestimmt.

Viele Leute seien verärgert, wenn ihnen beispielsweise reservierte Sitzplätze in Zügen weggenommen würden, führte Koetse aus. Sie hätten daher kein Mitleid so jemanden, der 180 Tage lang auf eine Sperrliste gewandert sei. Es gehe Peking nicht um den Export solcher Techniken. So werde zwar beispielsweise die chinesische Social-Video-App TikTok populärer in der EU und den USA. Diese arbeite dort aber mit einem ganz anderen Grundsystem als in China.

Das Technikverständnis sei in China ganz anders als im Westen, konstatierte der Sinica-Podcaster Kaiser Kuo. Während in Europa und Amerika fast nur noch dystopische Filme über KI und Roboter produziert würden, seien die Chinesen hier noch in der optimistischen "Star-Trek"-Phase. Nerds genössen daher einen hohen sozialen Status und gingen im Wettstreit um die schönsten Frauen immer als Sieger hervor. Die Frage, ob mit maschinellem Lernen "ein Dämon" entfesselt werde, sei allenfalls etwas für Philosophieinstitute. (anw)