FAQ: Was passiert, wenn uns Russland das Gas abstellt?

Was kommt auf uns zu, wenn Nord Stream 1 nicht wieder ans Netz geht? In unserer FAQ beantworten wir die drängendsten Fragen zur Gaskrise.

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(Bild: Skye Studio LK/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Anna Kalinowsky

Seit einer Woche fließt wegen Wartungsarbeiten kein Gas mehr durch Nord Stream 1. Aufgrund des Ukraine-Kriegs ist nicht klar, ob Russland die Lieferungen wie geplant in wenigen Tagen wieder aufnehmen wird. Ohnehin schickt Moskau seit einiger Zeit nur 40 Prozent der üblichen Menge durch die Pipeline. Die Sorge vor einem kalten Winter ohne Heizung ist groß. Wer bekommt noch Gas geliefert, wenn sich die Speicher leeren? Wie sind private Haushalte, die Industrie und die Bundesregierung auf den Ernstfall vorbereitet? Diese und weitere Fragen klären wir in unserer FAQ.

Was meinen Politiker, wenn sie von einer „Gas-Triage“ sprechen?

Der Begriff "Triage" stammt ursprünglich aus der militärmedizinischen Sprache und bezeichnet die Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, um z.B. bei einem Massenanfall von Verletzten so viele Patienten wie möglich zu retten. Dabei geht es um die ethisch schwierige Frage, wer bei knappen Ressourcen noch versorgt werden kann und wer nicht. Seit der Corona-Pandemie ist die Triage auch im alltäglichen Sprachgebrauch angekommen. In diesem Zusammenhang geht es darum, wer bei einer Überlastung der Krankenhäuser noch behandelt wird.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) brachte die Triage auch in Bezug auf die aktuelle Gaskrise ins Spiel. Hier geht es um die Verteilung bzw. Rationierung von Erdgas bei einer akuten Energie-Knappheit. Er warnte in diesem Zusammenhang davor, dass eine solche Triage Auswirkungen auf Millionen Arbeitsplätze haben würde. Söders Triage-Analogie erntete jedoch Kritik. So sagte Christian Kullman, Evonik-Chef und Präsident des Chemieverbands VCI: "In der Pandemie ging es um Leben und Tod, und wir haben alles getan, um eine Selektion in den Krankenhäusern zu vermeiden. Diesen Begriff kann ich doch jetzt nicht auf die Gaskrise anwenden, um über Branchen und Jobs zu sprechen."

Was würde Stufe 3 des „Notfallplans Gas“ bedeuten?

Der "Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland" soll die sichere Gasversorgung gewährleisten und sieht im Falle einer Notlage drei Stufen vor, die vom Bundeswirtschaftsministerium ausgerufen werden. In der Frühwarnstufe bildet sich ein Krisenteam aus Behörden und Gasversorgern, die ohne staatliche Eingriffe Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der Gasversorgung ergreifen. Momentan befinden wir uns in Stufe 2, der Alarmstufe. Der Staat überlässt auch hier den Marktakteuren weitestgehend die Aufgabe, z.B. durch Flexibilisierung und Optimierung der Gasbeschaffung die Notlage zu entspannen. Er kann jetzt aber auch unterstützend eingreifen und Unternehmen der Gasversorgungskette bei starken Preisanstiegen durch das Energiesicherungsgesetz unter die Arme greifen. So dürfen etwa Gasversorger mittlerweile die gestiegenen Preise an ihre Kunden weitergeben.

Erst in Stufe 3, der Notfallstufe, kann die Bundesregierung wirklich in die Verteilung von Energie eingreifen. Auf Grundlage des Energiesicherungsgesetzes kann sie dann Verordnungen zum Einsatz, zur Verteilung, zum Transport und zum Einsparen von Energie erlassen. Sollte es dazu kommen, dass die Gasmärkte nicht mehr funktionieren, wird die Bundesnetzagentur als sogenannter Bundeslastverteiler dann auch die Verteilung des Gases regeln. Stufe 3 des Notfallplans wird ausgerufen, wenn eine "außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere erhebliche Verschlechterung der Versorgungslage" vorliegt. Falls Russland kein Gas mehr liefern sollte, ist diese Situation durchaus denkbar.

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Wie wird entschieden, wer noch mit Gas beliefert wird?

Sollte die Notfallstufe ausgerufen werden, kann die Bundesnetzagentur nicht willkürlich bestimmen, wer noch mit Gas beliefert wird. Einige Verbraucher sind gesetzlich besonders geschützt. Zu diesen Verbrauchern gehören etwa soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, aber auch private Haushalte. Sie sollen so lange wie möglich mit Gas versorgt werden.

Mittlerweile kommen aber immer mehr Stimmen auf, die die Priorisierung von privaten Haushalten vor Unternehmen infrage stellen. Selbst Wirtschaftsminister Robert Habeck hält den vorrangigen Schutz privater Haushalte in der aktuellen Situation für nicht mehr praktikabel. Bei einem Besuch in Wien sagte er, dass auch Verbraucherinnen und Verbraucher ihren Anteil leisten müssten, da die Notfallverordnung für kurzfristige und regionale Probleme ausgelegt sei. Die momentane Notlage könne aber mehrere Monate andauern, deshalb dürfte die Industrie nicht automatisch benachteiligt werden. Möglicherweise könnte die Notverordnung also noch an die aktuelle Situation angepasst werden.

Welche Folgen hätte es, wenn Unternehmen nicht mehr mit Gas beliefert werden?

Tatsächlich kann noch niemand wirklich abschätzen, was ein Gas-Stopp aus Russland für die deutsche Industrie bedeuten würde. Die Unternehmen, die in Deutschland etwa 37 Prozent des Erdgases verbrauchen, bereiten sich aber bereits seit Monaten auf diese Möglichkeit vor. Die Vorkehrungen reichen von Energie sparen bis Lager aufstocken, um die Versorgung aufrechterhalten zu können. Konzerne wie der Chemie- und Pharmariese Merck planen beispielsweise die teilweise Umstellung auf flüssige Brennstoffe, um weiter produzieren zu können. Andere Unternehmen wie der Stahlkonzern Thyssenkrupp sehen hingegen kaum Möglichkeiten, Gas einzusparen oder auf andere Energieträger umzustellen. Hier drohen Einschränkungen in der Produktion. Mehr zur Situation der Industrie im Falle eines Gas-Stopps lesen Sie hier.

Falls es tatsächlich zu einem Gas-Stopp aus Russland kommen sollte und die Notfallstufe ausgerufen wird, fällt der Bundesnetzagentur die Zuteilung des Gases zu. Dabei strebt sie an, "die gesamtwirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen minimal zu halten." Bisher gibt es aber noch keinen Plan, wer als systemrelevante Industrie gilt und wer als Erstes das Gas abgedreht bekommt. Als "systemrelevant" könnten beispielsweise Unternehmen gelten, die Erdgas nicht nur als Wärmequelle, sondern als Grundstoff nutzen. Es dient als Basis unter anderem für die Ammoniakherstellung oder die Wasserstoffgewinnung.

Die Bundesnetzagentur schreibt in einem Papier vom 17.05.22, dass "es keine feste Abschaltreihenfolge in Bezug auf einzelne Verbraucher oder Branchen geben [kann]." Auswahl und Umfang der Maßnahmen müssten vielmehr auf die aktuelle Notlage angepasst werden und seien Einzelfallentscheidungen.

Welche Vorkehrungen hat die Bundesregierung getroffen?

Damit sich die Auswirkungen eines potenziellen Gas-Stopps aus Russland für die Industrie und auch für private Haushalte in Grenzen halten, hat auch die Bundesregierung Vorkehrungen getroffen.

Um der Industrie zu helfen, wurden bereits mehrere Entlastungsprogramme für besonders energie- und handelsintensive Unternehmen auf den Weg gebracht. Diese umfassen KfW-Kredite, ein Sonderbürgschaftsprogramm, ein Margining-Absicherungsprogramm und ein Kostendämpfungs-Programm, das einen zeitlich begrenzten Kostenzuschuss ohne Rückzahlungspflicht ermöglicht. Mehr zum Schutzschild der Bundesregierung für von Kriegsfolgen betroffene Unternehmen lesen Sie hier.

Um möglichst schnell von russischem Gas unabhängig zu werden, will die Bundesregierung nun den Bau von schwimmenden LNG-Terminals vorantreiben. Ein entsprechendes LNG-Beschleunigungsgesetz wurde bereits verabschiedet, sodass schon im Winter zusätzliches Flüssigerdgas in das Gasnetz eingespeist werden könnte. Ob der Bau von LNG-Terminals in der momentanen Situation hilfreich ist, ist allerdings nicht unumstritten. Lesen Sie hier die Einschätzungen zum Bau der LNG-Terminals unserer Redakteure Malte Kirchner und Gregor Honsel.

Zu den wichtigsten Vorkehrungen zählt aber auch der Einkauf von zusätzlichen Gasreserven. Bereits im März wurden rd. 950 Mio. m³ Erdgas eingekauft und den Gasspeichern zugeführt. Durch eine Verordnung von Bundeswirtschaftsminister Habeck wurde zudem sichergestellt, dass Speicheranlagen mit besonders niedrigen Gasständen rechtzeitig aufgefüllt werden. Das am 30. April 2022 in Kraft getretene Gasspeichergesetz sieht zudem vor, dass Gasspeicher zu Beginn der Heizperiode fast vollständig gefüllt sein müssen. Diese Vorgaben sind laut Bundesnetzagentur dieses Jahr aber ohne zusätzliche Maßnahmen kaum noch zu erreichen, da die Gaslieferungen über Nord Stream 1 weiter auf niedrigem Niveau verharren. Wenn die Lieferungen komplett eingestellt werden, rückt das Ziel, die Gasspeicher bis November auf 90 Prozent zu bekommen, in noch weitere Ferne. Momentan sind die Gasspeicher in Deutschland etwa zu 64 Prozent gefüllt (Stand: 15.07.22).

Wie lange reichen Deutschlands Gasreserven?

Die Bundesnetzagentur hat insgesamt sieben Szenarien durchgespielt, um herauszufinden, wie es um die Gasversorgung in Deutschland bestellt ist. Dabei hat sie folgende Parameter in unterschiedlicher Kombination betrachtet:

  • Die russischen Gaslieferungen bleiben auf dem momentanen Niveau (40 Prozent der üblichen Menge) oder fallen komplett weg.
  • Deutschland reduziert den Export in Nachbarländer.
  • Deutschland senkt den eigenen Verbrauch und importiert zusätzlich LNG.

Das Ergebnis: Das optimistischste Szenario wäre die gleichbleibende Gaslieferung aus Russland und die Einschränkung der Exporte in Nachbarländer. Doch selbst in diesem Fall würden die Gasreserven im kommenden Jahr deutlich niedriger liegen als aktuell und auch das 90%-Ziel bis November wäre nicht erreichbar. Bei den anderen, weniger guten Szenarien würden die Speicherstände im nächsten Sommer bei maximal 20 Prozent liegen. Außerdem wird uns laut den Berechnungen ohne die Reduktion der Exporte bis Jahresende das Gas ausgehen. Mehr zu den Berechnungen der Bundesnetzagentur lesen Sie hier.

Zu etwas positiveren Ergebnissen ist unlängst aber eine Gemeinschaftsdiagnose von mehreren deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten gekommen. Diese haben 1000 Kombinationen aus 26 Faktoren berechnet und kommen auch im ungünstigsten Fall auf das Ergebnis, dass dieses Jahr kein Gasengpass mehr drohe. Grund dafür sei, dass sich die Speicher gefüllt haben. Falls Nord Stream 1 aber komplett abgestellt wird, könnte es im kommenden Jahr dennoch zu Gaslücken kommen.

Würde die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken helfen?

Einige FDP- und CDU/CSU-Politiker fordern angesichts der drohenden Gasnotlage, die noch laufenden drei deutschen Atomkraftwerke länger am Netz zu lassen. Eigentlich sollen diese laut der Atomgesetzänderung von 2011 Ende des Jahres abgeschaltet werden. Bereits im März 2022 hatten die Bundesministerien für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sowie für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) einen sogenannten "Prüfvermerk zur Debatte um die Laufzeiten von Atomkraftwerken" veröffentlicht. Darin kommen sie zu dem Schluss, "dass eine Verlängerung der Laufzeiten nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten könnte, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken". Eine Verlängerung der Laufzeiten wird auch angesichts der Gaskrise nicht empfohlen.

Abgesehen von Sicherheitsbedenken wäre eine Laufzeitverlängerung an eine Gesetzesänderung gebunden. Momentan sieht es nicht danach aus, dass diese in Arbeit wäre. Außerdem sind die AKW-Betreiber darauf vorbereitet, die Atomkraftwerke in wenigen Monaten abzuschalten und befinden sich deshalb bereits im Sparmodus. Es fehlt an Personal, Ersatzteilen, Brennstoff, Uran und Sicherheitsprüfungen. Selbst, wenn man sich für eine Verlängerung entscheiden würde, wäre der Effekt aus Zeitmangel für diesen Winter wohl nur marginal. Was noch alles nötig wäre, um die Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, lesen Sie hier.

Wie kann ich mich als Privatperson vorbereiten?

Selbst, wenn wir nicht in eine Gasnotlage geraten sollten, wird das Gas erst mal auf unbestimmte Zeit teuer bleiben. Laut Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, müssen wir uns auf eine Verdreifachung der Gaspreise vorbereiten – das sind schnell mehrere tausend Euro im Jahr. Aus diesem Grund sollten Sie zum einen versuchen, Gas einzusparen, aber zum anderen auch Geld zurücklegen, um für die enorm steigenden Abschläge aufkommen zu können.

Hausbesitzer können zudem über eine bessere Isolierung oder die Anschaffung einer Wärmepumpe nachdenken – beides sind natürlich keine Lösungen, die sich von heute auf morgen umsetzen lassen.

(anka)