Schwarzfahrt wider Willen: BVG-App lässt Tickets verschwinden

Wer eine digitale Fahrkarte hat, sollte kein erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen müssen. Es sei denn, die App streikt ausgerechnet im kritischen Moment.

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Von
  • Tim Gerber
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Dies ist ein Beitrag aus unserer Magazin-Rubrik Vorsicht, Kunde!, der erstmals am 6.9.2024 in c't 20/2024 erschienen ist.

Am 31. Mai wollte Martin S. in Berlin mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Flughafen fahren. Für solche Anlässe hat er auf seinem Smartphone die App der Berliner Verkehrsgesellschaft BVG installiert und kauft regelmäßig die darüber angebotenen Vierertickets für die Zone AB, die von ihm zu Hause bis zum Flughafen BER reicht. Vor Antritt der Fahrt aktivierte er die letzte Fahrkarte seines virtuellen Vierertickets, die ab diesem Zeitpunkt zwei Stunden lang für beliebige Fahrten innerhalb dieser Zone gültig ist.

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Die Fahrkarte wurde ihm in der BVG-App korrekt angezeigt und so stieg er zunächst in den Bus, der ihn zum nächsten S-Bahnhof bringen sollte. Während der Fahrt versuchte er, mit der App ein neues Viererticket zu erwerben, das er ja für die Rückfahrt vom Flughafen benötigen würde. Doch mehrere Versuche scheiterten während des Bezahlvorgangs, sodass Martin S. das Vorhaben zunächst aufgab.

In der S-Bahn der Linie 45, in die Martin S. anschließend einstieg, kam eine Fahrkartenkontrolle. Doch die BVG-App zeigte sein Ticket nicht an. Es war nicht mehr auffindbar und auch das Bahnpersonal war ratlos. Die Kontrolleure glaubten ihm zwar, dass er das nötigte Ticket mit der App ordentlich gekauft und vor Fahrtantritt wie vorgeschrieben aktiviert hatte, konnten dies aber nicht überprüfen und stellten ihm deshalb eine Rechnung über das erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro aus, wie die Strafe für Schwarzfahrer offiziell heißt.

Er solle sich dann mit der BVG auseinandersetzen und bei entsprechender Bestätigung würde man ihm die Strafzahlung sicher erlassen, beschwichtigten ihn die Kontrolleure. Vier Wochen hatte er dafür Zeit. Sofort nach seiner Rückkehr am 17. Juni wandte sich Martin S. deshalb per E-Mail an den App-Support der BVG, reichte die Belege über den Kauf des Vierertickets im November und die Aktivierung der letzten Fahrt am 31. Mai um 6:30 Uhr ein und bat darum, ihm den Fehler der BVG-App zu bestätigen, aufgrund dessen er die Fahrkarte bei der Kontrolle in der S-Bahn nicht hatte vorzeigen können.

Ein Screenshot aus dem System des EDV-Systems sollte belegen, dass die BVG-App korrekt arbeiten würde. Auf Nachfrage erwies sich genau das aber als falsch.
Schon am selben Tag erhielt er eine Antwort. Ein Mitarbeiter des App-Supports der BVG bestätigte ihm zwar, dass er ein gültiges Ticket gehabt habe. Den Ausfall der App wollte man ihm aber nicht bestätigen. "Wir können unserseits keinen Fehler feststellen", hieß es. Immerhin erreichte Martin S. mit der Bestätigung der BVG, dass die S-Bahn ihre Nachforderung von 60 auf 7 Euro reduzierte. Da er aber eigentlich ein gültiges Ticket hatte und sich keinerlei Schuld bewusst war, wollte Martin S. auch diese erhöhte Gebühr nicht bezahlen. Schließlich hatte er den regulären Fahrpreis von 3,30 Euro ja nachweislich korrekt bezahlt. Deshalb schrieb er nochmals an die BVG und bat darum, das technische Problem bei der Kontrolle zu bestätigen. Er stellte dem App-Service zudem die Frage, unter welchen Umständen es zu solchen Ausfällen der App kommen könne.

Doch bei der BVG war man der Auffassung, dass mit der App alles seine Richtigkeit hätte. Zum Beleg sandte man sogar Screenshots aus dem eigenen System. Das Ticket sei Sekunden nach der Aktivierung am Morgen des 31. Mai korrekt in der App angezeigt worden. Warum es dann bei der späteren Kontrolle in der S-Bahn nicht angezeigt wurde, quittierte der BVG-Mann mit einem Achselzucken: "Ich war bei der Kontrolle nicht dabei, kann mir also kein Urteil erlauben", hieß es lapidar. Die Entscheidung über das Beförderungsentgelt liege beim kontrollierenden Unternehmen, also der S-Bahn Berlin GmbH.

Dort bestand man aber auf einen Nachweis für den App-Ausfall vom App-Anbieter, also der BVG. Zähneknirschend zahlte Martin S. die auferlegten 7 Euro, wandte sich mit der Sache aber an c’t. Auch wir fanden die Praxis der beiden Unternehmen merkwürdig. Warum verlangte die S-Bahn von dem Fahrgast, einen Nachweis vom App-Anbieter beizubringen, dass dort ein technisches Problem herrschte? Die Kontrolleure des Unternehmens hatten das doch bei der Kontrolle selbst feststellen und bezeugen können: Der Fahrgast hatte sein Smartphone dabei, die App war installiert, sein Zugang aktiv und online. Eine Bestätigung, dass er zu diesem Zeitpunkt ein aktives digitales Ticket besaß, hatte er von der BVG anstandslos erhalten und der S-Bahn vorgelegt. Nichts sprach dafür, dass sich dieser Kunde in irgendeiner Form schuldhaft vertragswidrig verhalten hatte und folglich mit einem erhöhten Beförderungsentgelt belegt werden könnte, mit welchem Verstöße gegen die Beförderungsbedingungen, insbesondere das Schwarzfahren, allgemein bestraft werden.

Wir fragten deshalb bei beiden Unternehmen nach und wollten vor allem wissen, wie Fahrgäste generell solche Unannehmlichkeiten bei Ausfällen von Fahrkarten-Apps vermeiden können. Die BVG fragten wir, ob sie ausschließen könne, dass es infolge des bei Martin S. gescheiterten Erwerbs weiterer Tickets zu einem technischen Problem mit der App gekommen ist, aufgrund dessen das Ticket nicht angezeigt wurde. Andernfalls solle uns die BVG verraten, welche Ursachen sonst für den Ausfall in Betracht kommen.

Innerhalb nur weniger Stunden entschuldigte sich die Pressestelle der BVG: "In ganz vereinzelten Fällen konnte es vorkommen, dass ein eingelöster Wertabschnitt von 4-Fahrten-Karten in der Ticket-App nach einer kurzen Zeit nicht mehr angezeigt wurde." Dieses Problem sei mit dem Update der App Anfang Juli behoben worden. Man habe die S-Bahn Berlin nunmehr angewiesen, das Verfahren gegen Martin S. einzustellen.

Die Pressestelle des DB-Konzerns, zu dem die S-Bahn Berlin gehört, zeigte sich weniger einsichtig. Man habe die Strafzahlung ja bereits "aus Kulanz" reduziert, teilte uns ein Sprecher mit. Ein Blick in die Beförderungsbedingungen der S-Bahn schien die Auffassung der Bahn, dass es sich um reine Kulanz gehandelt habe, sogar zu bestätigen. Die Bestimmungen stammen offenbar noch aus dem vorigen Jahrtausend und kennen folglich nur zu Hause vergessene Monatskarten als Grund, bei nachträglicher Vorlage die Schwarzfahrerpauschale auf 7 Euro zu ermäßigen. Ausfälle von Ticket-Apps finden keine Erwähnung.

Service im Visier
Vorsicht Kunde!

Immer wieder bekommen wir E-Mails, in denen sich Leser über schlechten Service, ungerechte Garantiebedingungen und überzogene Reparaturpreise beklagen. Ein gewisser Teil dieser Beschwerden ist offenbar unberechtigt, weil die Kunden etwas überzogene Vorstellungen haben. Vieles entpuppt sich bei genauerer Analyse auch als alltägliches Verhalten von allzu scharf kalkulierenden Firmen in der IT-Branche.

Manchmal erreichen uns aber auch Schilderungen von geradezu haarsträubenden Fällen, die deutlich machen, wie einige Firmen mit ihren Kunden umspringen. In unserer Rubrik „Vorsicht, Kunde!“ berichten wir über solche Entgleisungen, Ungerechtigkeiten und dubiose Geschäftspraktiken. Damit erfahren Sie als Kunde schon vor dem Kauf, was Sie bei dem jeweiligen Unter nehmen erwarten oder manchmal sogar befürchten müssen. Und womöglich veranlassen unsere Berichte ja auch den einen oder anderen Anbieter, sich zukünftig etwas kundenfreundlicher und kulanter zu verhalten.

Falls Sie uns eine solche böse Erfahrung mitteilen wollen, senden Sie bitte eine chronologisch sortierte knappe Beschreibung Ihrer Erfahrungen an: vorsichtkunde@ct.de.

Nicht als Schwarzfahrer zählt den Bestimmungen nach lediglich derjenige, der ohne eigene Schuld gar keinen Fahrschein gelöst hat, etwa weil an seinem Abfahrtsbahnhof in der brandenburgischen Peripherie der Ticket-Automat streikt. Martin S. hatte aber einen Fahrschein. Trotzdem würde die Bahn in einem solchen Fall ein erhöhtes Beförderungsentgelt wohl kaum vor den Gerichten durchsetzen können, denn die legen solche Vertragsbedingungen so aus, wie sie vernünftigerweise sein sollten, wenn man bei ihrer Formulierung an Fälle wie jenen von Martin S. gedacht hätte, die es damals ja noch gar nicht gab.

Aber anstatt ihre Tarife zu modernisieren, bauen die Bahnunternehmen offenbar darauf, dass die wenigsten Kunden sich trauen werden, es in Sachen Beförderungsentgelt auf einen Richterspruch ankommen zu lassen. Martin S. hat jedenfalls am Ende auch seine bereits gezahlten 7 Euro von der S-Bahn zurückbekommen. Ob Bahn und BVG künftig ihre Fahrgäste bei solchen App-Problemen besser behandeln werden, können wir nur weiterhin beobachten.

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(tig)