Eine App gegen die Sucht

Ein Start-up aus Chicago hilft Süchtigen, nach dem Entzug clean zu bleiben. Mit Smartphone-Daten und künstlicher Intelligenz sagt "Triggr" voraus, wann ein Rückfall droht.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Nanette Byrnes

Als ich mit Tasha Hedstrom sprach, war sie seit 61 Tagen clean. Nach 15 Jahren Opioid-Abhängigkeit nahm sie jetzt Vivitrol. Das Medikament unterdrückt die angenehme Wirkung der Opioide und reduziert das Verlangen nach Schmerzmitteln. Außerdem begleitet Hedstrom ihren Fortschritt mit der App "Triggr Health". Denn Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Drogensüchtigen, bei denen sich Abhängige gegenseitig unterstützen, findet Hedstrom nicht hilfreich.

Triggr bietet einen anderen Weg. Die App verbindet Hedstrom mit einem Team von Betreuern. Diese chatten tagsüber mehrfach mit ihr. Meist geht es darum, wie Hedstroms Tag verläuft und welche Ziele sie verfolgt. Die Betreuer halfen ihr auch, als der Frau ein Fremder auf einem Parkplatz Drogen anbot. "Man braucht Unterstützung", sagt Hedstrom. "Es fühlt sich an, als seien wir Freunde." Wenn sie Triggr einen ganzen Tag lang nicht benutzt, wird sie von einem Betreuer kontaktiert.

Insgesamt gibt es laut der Substance Abuse and Mental Health Services Administration, einer Behörde des US-Gesundheitsministeriums, 23 Millionen drogen- oder alkoholsüchtige Amerikaner. Für einige ist die häufigste Form der Hilfe – Gruppen wie die Anonymen Alkoholiker oder die Anonymen Drogensüchtigen – effektiv. Trotzdem werden einer Umfrage zufolge 75 Prozent der Teilnehmer innerhalb des ersten Jahres wieder rückfällig. Andere Apps beschreiben oft nur den Weg zum nächstgelegenen Treffpunkt der Anonymen Alkoholiker oder bieten inspirierende Sprüche, Hypnose-Anleitungen oder eine Online-Selbsthilfegruppe an.

TR 9/2017

Das Konzept von Triggr ist ambitionierter. Das Start-up aus Chicago will Betroffenen nicht nur helfen, mit Stress und dem Verlangen fertig zu werden. Das Ziel ist vielmehr vorherzusagen, wenn jemandem ein Rückfall droht. Dafür wertet Triggr Smartphone-Daten aus wie die am Handy verbrachte Zeit, Chat-Muster, Anruf- und Schlafprotokolle, aber auch die Aufenthaltsorte. Dabei hat die App bei Chats und Mails nur Zugang zu Metadaten, nicht zum Inhalt.

Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse mit Informationen aus den Gesprächen mit den Nutzern zusammengebracht. Von Interesse ist, welche Drogen die Abonnenten bevorzugen, wie ihre persönliche Geschichte verlaufen ist und ob sie bedenklich oft Wörter wie "Verlangen" oder "Stress" verwenden. All diese Details speist Triggr in seine Algorithmen ein. Mithilfe von Maschinenlernen sucht das System nach Mustern, die auf eine Abweichung von der typischen Routine hinweisen. Denn dies ist ein Indikator für eine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit.

Je größer die Zahl der Triggr-Nutzer und die Datenmenge sind, desto besser wird das System. Im vergangenen Jahr lag die Rate für eine korrekte Vorhersage von Rückfällen innerhalb der folgenden drei Tage noch bei 85 Prozent. 2017 stieg die Trefferquote bereits auf 92 Prozent.

Was die Nutzung der Plattform kostet, verrät das Unternehmen bisher nicht. In einigen Pilotprojekten scheint Triggr wenig bis gar nichts zu berechnen. Zu den Nutzern gehören zum Beispiel Patienten der Sprout Health Group, einer Kette von amerikanischen Suchtbehandlungszentren. Diese nahmen laut Geschäftsführer Arel Meister-Aldama früher meist an einem 45 Tage dauernden Entzugsprogramm teil, bevor sie nach Hause zurückkehrten.

Anschließend wurden sie zwar regelmäßig angerufen. Aber es sei schwierig gewesen, sich ein Urteil über die Situation der Betroffenen zu bilden, sagt Meister-Aldama. Jetzt warnt Triggr die Suchtberater, wenn die App ein Rückfallrisiko feststellt. Dadurch sind zwar mehr Patienten in die Einrichtung zurückgekehrt. Dennoch sind die Betreuungskosten pro Patient gefallen, denn die Suchtberater konnten früher eingreifen und teure Notfallbehandlungen vermeiden.

Die Idee für die App kam John Haskell, Mitgründer und Geschäftsführer von Triggr, als er an der Stanford University studierte. Damals litt er selbst unter einer manischen Depression, während eine Freundin ebenfalls mit psychischen Problemen kämpfte und drogensüchtig war. Sie dachte sogar an Selbstmord. Da rief in einem kritischen Moment ihre Mutter an und lotste sie wieder auf einen positiveren Pfad. Als Haskell die Mutter später fragte, warum sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt zum Hörer gegriffen habe, sagte sie: "Mütterlicher Instinkt."

Haskell nahm sich vor, diese Intuition mithilfe von Technologie nachzubilden. "Es war nicht nur, dass die Mutter fühlen konnte, dass etwas nicht stimmte", sagt der Triggr-Gründer. Es habe auch all diese Indizien für die Nutzung des Smartphones durch die Tochter gegeben. So hatte die Freundin zum Beispiel gern das Multiplayer-Onlinespiel "Words with Friends" gespielt, es aber irgendwann aufgegeben. Außerdem verschickte sie mitten in der Nacht Textnachrichten und schlief also offensichtlich nicht.

Heute sitzt Haskells Team an zwei langen Tischen in Chicago. An einem befinden sich die Programmierer und am anderen bis zu fünf Betreuer. 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche beobachtet Triggr seine Nutzer. Auf 500 von ihnen kommt ein Betreuer. Das Unternehmen hat die schwierige Aufgabe, mit einem Minimum an menschlichem Input einen persönlich zugeschnittenen Dienst anzubieten. Die Technik identifiziert dabei für die Betreuer die kritischen Muster. Die Skala reicht von eins bis zehn. Bei eins läuft alles gut, bei zehn triggert das System eine Warnung, dass der Nutzer am Rande eines Rückfalls steht und kontaktiert werden muss.

Dabei haben bedeutsame Warnsignale meist gar nicht direkt mit Drogen oder Alkohol zu tun: Oft handelt es sich um Schicksalsschläge wie den Tod eines Familienmitglieds oder eines anderen Abhängigen. Weitere Herausforderungen sind Affären oder Schwierigkeiten mit der Wohnsituation. Sogar Kleinigkeiten wie eine zur ungewöhnlichen Zeit empfangene Textnachricht können das Risiko für einen Rückfall erhöhen. Triggr muss gar nicht wissen, von wem die Botschaft stammt. Die Unterbrechung der Routine genügt als Hinweis.

Während Algorithmen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls ermitteln können, haben sie keine Möglichkeit, ihn zu verhindern. Deshalb sammelt Triggr zusätzlich alle Daten, die den Nutzern helfen können, dem Verlangen zu widerstehen. "Unsere Aufgabe ist, das so persönlich wie möglich zu machen", sagt Haskell. Die Betreuer testen deshalb ständig neue Nachrichten, die sie den Klienten bei verschiedenen Problemen schicken. Hilfreiche Ansprachen leiten sie anschließend an die Programmierer weiter. Bei späteren Anfragen oder einem Rückfallalarm wird den Betreuern dann die effektivste Antwort vorgeschlagen, auf die der Betroffene am wahrscheinlichsten reagieren dürfte. Damit kommt Haskells digitale Intuition der menschlichen schon ziemlich nahe. (bsc)